Donnerstag, 27. August 2020 um 19.00 Uhr

Vortrag und Diskussion

Referent: Friedrich Burschel

Ort: VHS Braunschweig, Speicher der Alten Waage, Alte Waage 15, Braunschweig
Veranstalter: Friedenszentrum BS e.V., Friedensbündnis Braunschweig

Die Aktualität der hier darzulegenden Zusammenhänge ist durch die jüngsten Skandale um Mails mit dem Absender „NSU 2.0“ ,die sich auf Informationen aus Polizeicomputern stützten, hinlänglich verdeutlicht. – Im Zusammenhang mit der Chatgruppe Nordkreuz, Hannibal-Netzwerk u.a. soll ebenso die Rolle von Teilen des Verfassungsschutzes, Verstrickungen von Beamten des MAD kritisch hinterfragt werden.

Wegen der coronabedingt beschränkten Teilnehmer*innenzahl (10 Personen) bitten wir um rechtzeitige Anmeldung unter der E-Mail Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Der Vortrag wird aufgezeichnet und auf der Homepage veröffentlicht.

Im nachfolgenden Text gibt der Referent einen kurzen Abriss zu der von ihm zu behandelnden Thematik.
Ankündigung Veranstaltung zum NSU-Komplex post verdictum mit Friedrich Burschel (Radio Lotte Weimar, NSU-Watch, Rosa Luxemburg Stiftung Berlin)

Keine Ruhe nach dem Urteil

Seit dem fragwürdigen Schussakkord im Münchener NSU-Prozess reißt die Kette rechtsterroristischer Anschläge und Eskalationen, Bedrohungen und Angriffen nicht ab. Es kann keinen Schlussstrich unter die Causa NSU geben.

Ist der NSU jetzt Geschichte, wie es der Berliner „Tagesspiegel“ am Tag nach der Urteilsverkündung in München staatstreudoof verkündete - ausgerechnet im Interview mit dem Chef des Inlandsgeheimdiensts, Hans-Georg Maaßen?

Mit Sicherheit nicht: Der Tag der Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 war der absolute Tiefpunkt der 438 Prozesstage und ein erneuter Tiefschlag für die vom NSU-Terror Betroffenen. Zwar wurde Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft bei „besonderer Schwere der Schuld“ verurteilt, die beiden bis heute fanatisch bekennenden Neonazis unter den Angeklagten im Prozess, Ralf Wohlleben und André Eminger, erhielten geringere als von der Bundesanwaltschaft (BAW) geforderte Freiheitsstrafen. Insbesondere Eminger wurde in etlichen Punkten mit haarsträubender Begründung freigesprochen. Er muss nur zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Dieses Strafmaß liegt fast zehn Jahre unter der Forderung der BAW und sorgte gemeinsam mit Emingers sofortiger Freilassung aus der U-Haft bei den bei der Urteilsverkündung anwesenden Neonazis im Publikum für johlende Begeisterung. Ein schwarzer Tag für die Opfer des NSU, aber auch für den Kampf gegen den immer dreister auftretenden Neonazismus in Deutschland. Ralf Wohlleben, der eine Woche nach dem Urteil auf freien Fuß gesetzt wurde, wird derzeit zum Helden und Märtyrer der Szene aufgebaut: Das niederschmetternde Signal des Staatsschutzsenates des Oberlandesgerichts München zeitigt schon jetzt verheerende Wirkung in einer Szene, die sich gerade erneut radikalisiert.

Seither geistert der NSU immer wieder mit alarmierenden und bedrohlichen Meldungen durch die Medien: Ausgerechnet in der Chemnitz, in der der NSU seinen ersten Unterschlupf wie ein Fisch in brauner Brühe fand, kam es nach einer Gewalttat zu pogromähnlichen Ausschreitungen, wenige Tage später in Köthen ebenso: Auf der Straße findet ein gewaltbereiter Mob von organisierten Neonazis und Nazi-Hools mit den „besorgten Bürgern“ von Pegida und „Pro Chemnitz“ zusammen mit Neuen Rechten, Identitären und der der Führungsriege der AfD. Nicht nur der sächsische Ministerpräsident leugnet den Mob auf den Straßen auch der damalige Chef des Inlandsgeheimdienstes, Maaßen.

Kaum einen Monat nach dem Spruch von München erhielt die Nebenklagevertreterin, Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, von Nazis massive Morddrohungen per Fax. Sie drohten ihr, ihre zweijähriges Tochter zu töten. In den Drohfaxen waren nicht-öffentliche Informationen zu Başay-Yıldız’ Privatleben enthalten. Nach einer Anzeige bei der Polizei stellte der Staatsschutz fest, dass diese Informationen von der Polizei selber stammten und es Frankfurter Polizeibeamt*innen waren, die die Todesdrohungen an sie geschickt und ihre Schreiben mit „NSU 2.0“ unterschrieben hatten. Fünf Beamt*innen wurden vom Dienst suspendiert und mal wieder „lückenlose Aufklärung“ und ein „hartes Durchgreifen“ versprochen. Einen Monat später, Anfang 2019 erhielt Seda Başay-Yıldız erneut Drohfaxe, wieder unterzeichnet mit „NSU 2.0“ und mit dem noch mit rassistischen Beleidigungen gespickten Satz: Ihr, Başay-Yıldız, sei "offensichtlich nicht bewusst, was du unseren Polizeikollegen angetan hast“. Was erneut darauf hindeutet, dass hinter den erneuten Drohungen wieder Polizist*innen stecken könnten. Inzwischen sind schon die nächsten derartigen Faxe angekommen. Die Empörung hält sich in Grenzen.

Der frühere Vize-Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus-Dieter Fritsche (CSU), der zur Zeit der rassistischen Mordserie des NSU im Amt war und für den Satz vor dem ersten NSUUntersuchungsausschuss des Bundestages berühmt wurde: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“, ist unterdessen Berater des völkisch-nationalistischen Österreichischen FPÖ-Innenministers Herbert Kickl beim Umbau des dortigen Inlandsgeheimdienstes. Anfang Juni ist in Kassel der Regierungspräsident Walter Lübcke, ein CDUMitglied, mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Der einschlägig bekannte geständige Tatverdächtige ist ein Mitglied u.a. der Kasseler Nazi-Szene und des internationalen Netzwerkes Combat 18: In Kassel kulminieren auch die im NSU-Komplex unbeantwortete Fragen über Verstrickung des Staates in rechte Netzwerke und das umstrittene V-Leute –Wesen. Lübcke stand wohl schon auf einer Todesliste des NSU und der mutmaßliche Killer Stephan E. hatte Kontakte zu einigen als Zeug*innen im Münchener NSU-Prozess gehörten Neonazis mit C18-Hintergrund.

Unterdessen stehen weitere Städtenamen auf dieser langen Liste: die verheerenden Anschläge von Halle und Hanau, die Festnahme einer großen rechtsterroristischen Gruppe und die Verfolgung weiterer solcher Gruppen wie etwa „Nordkreuz“, in denen auch amtliche Würdenträger, Polizist*innen und Bundeswehrangehörige den Tag X der gewaltvollen Machtübernahme vorbereiten.

Umso wichtiger ist es für eine antifaschistische Linke, an der Forderung „Kein Schlussstrich!“ festzuhalten und zu verhindern, dass die Causa NSU jetzt staatlicherseits und von vielen Medien als erfolgreich aufgeklärt abmoderiert wird! ALLE wesentlichen Fragen sind weiter offen: Institutioneller Rassismus? Ist bis heute ein Nischenthema der Betroffenen. Ein Nazi-Netzwerk? Ein Hirngespinst. Verstrickung des „Verfassungsschutzes“? I wo.

Für diejenigen von uns, die an einer offenen und pluralen Gesellschaft der Vielen interessiert sind und an der Wahrung einer humanen Orientierung kann das Urteil und das Ende des Prozesses nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zu lückenloser Aufklärung und Aufarbeitung sein. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass jetzt zur Tagesordnung übergegangen wird und ein Schlussstrich unter den monströsen NSU-Komplex gezogen wird. Nach so langer Zeit und vielen Millionen Euro später sind die wesentlichen und bohrenden Fragen dieses Komplexes nach wie vor unbeantwortet und offen, der Verfassungsschutz geht aus diesem wohl größten Geheimdienstskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte völlig ungeschoren hervor, im Land explodiert rassistische und rechte Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen, Aussagen, die zu Beginn des Prozesses und in ihm noch eindeutig als Nazi-Sprech zu identifizieren waren, sind in Rekordzeit wieder in aller Munde und jeglichen Tabus entkleidet und im Bundestag hetzt täglich eine neue völkisch-nationalistische Partei mit weiter erstarkenden außerparlamentarischen Zweigen im organisierten Neofaschismus. Das Ende des Prozesses kann mithin nur der Beginn eines neuen Kampfes für Menschlichkeit und Vielfalt sein und einer Renaissance antifaschistischen Engagements.

Mit seinem Vortrag will Fritz Burschel die Einschätzung von Prozess, Urteil, Untersuchungsausschüssen, Behördenverstrickung, gesellschaftlichem Rassismus und der rechtsterroristischen Gefahr vom Kopf auf die Füße stellen und die Frage nach antifaschistischen Konsequenzen aus dem Aufarbeitungs- Desaster und den Anforderungen der „Kein Schlussstrich“-Kampagne diskutieren.




Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er war über 5 Jahre akkreditierter Korrespondent des nicht-kommerziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und ist Mitarbeiter von NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Printbeiträge zum Prozess und zum NSU sind auf der RLS-Homepage https://www.rosalux.de/dossiers/nsu-komplex/ zu finden.

Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die neonazistischen Parteien oder Organisationen angehören, der Neonazi-Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.