Gedenken am Hiroshima-Ufer (Foto Silke Westphal)

Am Freitag, 07.08.2020, fand die Veranstaltung "100 Kerzen auf der Oker" zum Gedenken an den Atombombenabwurf auf Hiroshima vor 75 Jahren statt.

Gabriele Canstein vom Friedenszentrum begrüßte das Publikum, ca. 100 Personen, mit dem Hinweis, das das Friedenszentrum seit 15 Jahren diese Gedenkveranstaltung am Hiroshimaufer durchführt. Das Programm bot einige Wortbeiträge zur Erinnerung und zur Mahnung, die unter anderem von Brigitte Constein-Gülde und Rainer Gellermann vorgetragen wurden. Corinna Senftleben und Mechthild Werner bereicherten den Abend mit abwechslungsreicher und besinnlicher Musik. Das beeindruckende Grußwort des Oberbürgermeisters sprach die Kulturdezernentin, Dr. Anja Hesse. Es wird nachfolgend wiedergegeben:

 



Begrüßung durch Gabriele Canstein:

Sehr geehrte Kulturdezernentin Dr. Hesse,
sehr geehrte Bürgermeisterin Zander, ....
liebe Friedens-Freunde und Gäste!

Heute abend lassen wir zum fünfzehnten Mal "Hundert Kerzen auf der Oker" schwimmen, um an die Opfer des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren zu gedenken und um an die ungeheuren Zerstörungen zu erinnern, die die Folge waren.
Das Friedenszentrum hat bisher und wird weiterhin deutlich auf die Gefahren nuklearer Waffen hinweisen und sich für deren Ächtung einsetzen.
 
Angefangen mit  Infoständen, jeweils Anfang August auf dem Kohlmarkt,  die über die Zerstörung der Städte Hiroshima und Nagasaki durch die Atombombe zeigten, haben wir 2005 mit einer Lichterprozession am Okerufer hinter dem Theater begonnen. Die Initiative hierzu ist von unserem Mitglied Helmut Weidemeier ausgegangen. Seitdem lassen wir in jedem Jahr am ersten Freitagabend Anfang August 100 Kerzen auf der Oker schwimmen.

Mit Unterstützung von Heike Zander, damals im Bezirksrat Inenstadt, haben wir erreicht, dass zumindest ein Teil des Uferweges an der Oker in "Hiroshima-Ufer" umbenannt worden ist. Das war 2013.

Und wir werden immer wieder die Gefahren durch Nuklearwaffen ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, wie mit dieser Lichter-Aktion heute abend!

Ich danke für die Unterstützung, die die Stadt Braunschweig uns in all den Jahren gewährt hat und übergebe das Wort an die Kulturdezernentin, Frau Dr. Hesse.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
(Gabriele Canstein)


Grußwort der Stadt Braunschweig und Redebeitrag Dr. Anja Hesse



Sehr geehrte Frau Canstein, sehr geehrte Mitglieder des Friedenszentrums, meine sehr geehrten Damen und Herren,


zunächst darf ich Ihnen, auch im Namen von Herrn Oberbürgermeister Markurth, sehr herzlich danken, dass die Stadt Braunschweig ein Grußwort zur Gedenkveranstaltung „Hundert Kerzen auf der Oker" anlässlich des 75. „Hiroshima-Tages". sprechen darf. Ich überbringe Ihnen hiermit die herzlichsten Grüße von Herrn Oberbürgermeister.


Ihrer Einladung bin ich sehr gern gefolgt. Lassen Sie mich an den Beginn meiner Gedanken ein Zitat von Thomas Ruff setzen, des Fotokünstlers, der 2005 mit Arbeiten einen Raum des Italienischen Pavillons auf der Biennale von Venedig gestaltete, der u. a. eine Fotografie eines Atompilzes zeigte: gefragt, ob der Atompilz, der dank der starken Bilder zur schaurigen Ikone der Pop-Art geworden ist, auch schön war, antwortete er: „(Ruff): War er eine Ikone? Ich kann den Atompilz nicht von den Assoziationen trennen, die er auslöst. Ich kann kein Bild einer Atomexplosion sehen, ohne an ihre Folgen zu denken. Man kann seine eigene Ästhetik natürlich trotzdem als "furchtbar schön" bezeichnen.

Eine Ästhetik des Grauens, so könnte man die Assoziation beschreiben, die sich möglicherweise auch bei dem einen oder anderen heute Abend vor dem inneren Auge abspielt. Eine Distanz, die sich fast automatisch im ersten Moment einstellt, wenn wir daran denken, dass am 6. August 1945 gestern vor 75 Jahren die USA in Hiroshima die erste Atombombe einsetzten, um den Kriegsgegner Japan in die Knie zu zwingen. Von den 350.000 Einwohnern in Hiroshima starben rund 70.000 unmittelbar und in den folgenden Monaten erhöhte sich die Zahl auf 140.000. Drei Tage später warfen die USA die zweite Bombe auf die Stadt Nagasaki ab. Insgesamt starben innerhalb weniger Stunden 260 000 Menschen.

Offenbar war dieses unsägliche Leid dieser Bomben immer noch nicht genug. Bis heute haben weltweit über 2100 Atomtests stattgefunden. Die USA und die Sowjetunion haben 85% der Gesamtzahl dieser Tests durchgeführt.

Warum beginne ich mit einer Frage nach der Ästhetik der Bombe? Eben wegen jener Distanz zwischen den Bildern, die wir im ersten Moment zulassen, wenn die Namen Hiroshima und Nagasaki, und dem Wissen darum, dass unser Verstand nicht in der Lage ist, auch nur im Ansatz jenes Leid zu erahnen, das der Abwurf der Bomben verursacht hat. Wegen jener Distanz, die uns für einen kurzen Moment vor dem Ansturm jener Bilder schützt, der das Grauen und das menschliche Leid, sogar noch durch den Filter der Kamera-Objektive auf Abstand gehalten, an uns heranträgt: Sie alle haben diese Bilder jetzt im Kopf: die ausradierten Städte, die Menschen, die überlebt hatten um einen qualvollen Strahlentod zu sterben, die eingebrannten Schatten auf Mauerwänden, die das Abbild ausgelöschter Menschen waren. Diese Bilder sind kaum zu ertragen.

Vor wenigen Tagen, am 10. Juli, hat Frau Bürgermeisterin Ihbe anlässlich des Flaggentags der „Mayors for Peace" gesprochen manche von Ihnen mögen sogar bei der Veranstaltung zugegen gewesen sein.

Sie hat in Erinnerung gerufen, dass seit 1987 Braunschweig der Organisation „Bürgermeister für den Frieden" angehört, die weltweit 7.900 Mitglieder umfasst, darunter fast 700 deutsche. Mit dem Hissen der grün-weiße Flagge der „Mayors for Peace" am 8. Juli vor dem Rathaus wurde diese Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht.
Sie hat daran erinnert, dass dieser offizielle Flaggentag der „Mayors" an ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8. Juli 1996 erinnert, das ausdrücklich festhält, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern bereits die Drohung mit ihnen generell gegen das Völkerrecht verstößt.

Frau Ihbe hat daran erinnert, dass auch der Rat der Stadt Braunschweig mit seinem Beschluss im Juni des vergangenen Jahres gesetzt hat, als er mit deutlicher Mehrheit, dem Städte-Appell von ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) zugestimmt hat. In diesem globalen Bündnis, das 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, sind mehr als 450 Organisationen in 100 Ländern vertreten, darunter auch die „Mayors for Peace" .

Sie hat an die Aktionen der engagierten jungen Menschen in „Fridays für Future" erinnert.

Kann uns all das beruhigt stimmen? Sicherlich nicht! Doch die Hoffnung auf eine Welt ohne Kernwaffen hat sich trotz Hiroshima noch immer nicht erfüllt und scheint sogar weiter entfernt denn je.

Dagegen stehen die gewaltigen Ausgaben vieler Staaten für die Modernisierung und Aufstockung ihrer Atomwaffen-und übrigen Waffen-Arsenale. Dagegen steht die Aufkündigung des INF-Vertrags zwischen den USA und Russland über die nukleare Abrüstung im Mittelstreckenbereich. Es herrscht Aufbruchsstimmung bei den Falken der Großmächte.

Daher muss die Erinnerung an das Leid von Hiroshima in der Erinnerung wachgehalten werden, daher müssen auch wir hier immer wieder unserer Trauer und unserem Mitgefühl Ausdruck verleihen, denn wir sind Teil des globalen Erinnerns an das Grauen, das Menschen anderen Menschen bereitet haben und jederzeit offensichtlich wieder bereiten könnten.

Ich danke Ihnen als den Initiatoren und Trägern dieses heutigen Abends daher für diesen Beitrag zur Friedensarbeit, nicht nur heute, sondern auch während des gesamten Jahres.

Sie haben in Fortsetzung einer langjährigen Tradition wieder 100 Kerzen auf die Oker gesetzt, deren Licht sich auf der Wasseroberfläche spiegelt. Damit haben Sie ein Bild geschaffen, das zum ästhetischen Ausdruck unserer gemeinsamen Erinnerung wird und auf der assoziativen Ebene sicherlich manchen von uns das Licht der kleinen Kerzen mit dem Lebendigen, dem Lebenslicht verbinden lässt.

Dieses Bild ist stark und emotional bewegend, es bewahrt uns in der erträglichen Distanz zum unerträglichen Geschehen in Hiroshima. Es hilft die Herausforderung zu bewältigen menschliches Leid in eine Ausdrucksform zu bringen.

Theodor W. Adorno wird gern mit seinem Satz zitiert: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben." (Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft). Ich will hier nicht auf die jahrzehntelange Diskussion über diesen Satz eingehen, der bereits von Celans Lyrik, insbesondere der Todesfuge widerlegt geworden zu sein scheint: die Stimme, die das Gefühl der Be- und Unterdrückung sowie den Verlust eines jeden Sinnes oder zivilisatorisch-moralischen Gebotes demonstriert, über die sich angeblich nicht schreiben ließe.

Wie anders als mit den Mittel der Kunst und der Literatur ließe sich aber das Verbrechen der Menschheit gegen die Menschen hinausschreien und mahnend in Erinnerung rufen, damit sich Auschwitz, damit sich Hiroshima nicht mehr wiederhole.

Adorno selbst hat 1966 gesagt:
„Während die Situation Kunst nicht mehr zulässt bedarf sie doch ihrer. (Adorno, Die Kunst und die Künste, 1966).

Wir bedürfen dieser Kerzen auf der Oker, wir bedürfen des Dialog zwischen den Kulturen, um die Traumata der verschiedenen Nationen kennen zu lernen und für Versöhnung zu arbeiten. Wir bedürfen dabei auch der künstlerischen Ästhetik, die in der aktiven Auseinandersetzung mit den Themen Krieg und Zerstörung, Frieden und Freiheit die Irritation bildet und unsere Blicke schärft.

Mit einem Auszug aus einem Gedicht von Sankichi Toge, Zeuge des Bombenabwurfes über Hiroshima, möchte ich enden:

Sankichi Toge: 6. August

(... )

Wie kann ich diese Stille vergessen
Die sich über die 300. 000-Einwohner-Stadt legte?
Inmitten dieser Ruhe
Wie kann ich das Flehen vergessen

Der von uns gegangenen Ehefrau und des Kindes
Die aus ihren Augenhöhlen
In unseren Kopf und unsere Seele drangen?



In diesem Sinne danke ich nochmals für die Bilder dieses Abends,
für Ihre Teilnahme und Ihr Engagement auch in der Zukunft.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 


Text von Ingeborg Gerlach



Glück oder der Mond über Grönland

In den späten Sechzigerjahren wurde eine Geschichte erzählt, von der ich nicht weiß, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, aber wenn nicht dann ist sie gut erfunden. Da stieg eines Abends ein blutrotes Licht über dem Osthimmel von Ultima Thule, der US-amerikanischen Luftwaffenbasis im nördlichen Grönland, auf, und die erschrockenen Soldaten dachten, dass dies einen sowjetischen Angriff bedeutete. Schon wollten sie den Knopf zum Gegenschlag drücken – man erinnere sich: „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“ - , da erkannten sie, dass es der aufgehende Vollmond war, der sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. Angeblich war dieser Zwischenfall der Anlass für die Einrichtung des legendären Roten Telefons, mit dem man notfalls noch einmal Kontakt mit der Gegenseite aufnehmen konnte.

Besser verbürgt ist eine Episode, die sich auf dem Höhepunkt der Kubakrise im Oktober 1962 zugetragen haben soll. Da fragte nach einem amerikanischen Schuss der Kommandant eines sowjetischen U-Boots, das sich vor Kuba aufhielt,  den zweiten Kommandanten, ob der mitgeführte atomare Torpedo ausgelöst werden sollte. Und Wassili Archipow, der zweite Kommandant, der begriffen hatte, dass es sich nur um einen Warnschuss  handelte, sagte "Nein!“„ und verhinderte so den Dritten Weltkrieg.

Wahrscheinlich gibt es Dutzende solcher Geschichten. Für sie alle gilt, was der frühere US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara 1980 , als er schon nicht mehr im  Amt war, äußerte: Nur durch Glück sei man bisher durchgekommen.

Aber können wir uns auf das Glück verlassen – abgesehen davon, dass es solche Möglichkeiten der Rückfrage heute nicht mehr gibt? Anders formuliert: Wollen wir uns auf unser Glück verlassen?

Derzeit setzt sich eine Reihe von Staaten  im Rahmen der UN  für einen neuen völkerrechtlichen Vertrag ein, der Atomwaffen vollkommen verbietet. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich ihm anzuschließen.

Denn wir wollen nicht länger auf unser Glück angewiesen sein.
(Ingeborg Gerlach)


Redebeitrag Rainer Gellermann

Gedanken zum 75. Jahrestag der ersten Atombombe als PDF

 


Musikbeitrag (Video: Heidrun Jantos) von Mechthild Werner (Violine) und Corinna Senftleben (Gitarre)


(Foto Silke Westphal)


 

Kerzen auf der Oker (Foto Silke Westphal)