-- Ergänzung zur Ausstellung : Video-Interview als Lesetext. --
"Ich bin Friedensaktivistin, weil die Umstände im Jemen es erfordern. Man muss einfach für Frieden sein. Der Jemen erlebt seit acht Jahren einen bewaffneten Konflikt, einen Bürgerkrieg zwischen unterschiedlichen Parteien in unterschiedlichen Regionen des Landes. Ich glaube, wir müssen uns für Frieden einsetzen, damit die Stabilität im Jemen zurückkehrt und damit die Menschen wieder ihre Grundrechte haben, vor allem Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung und Ältere. Das Land braucht Frieden! Deswegen denke ich, dass es eine humanitäre und ethische Pflicht gegenüber den Menschen ist, dass wir Bündnisse für den Frieden bilden. Das ist unsere Hauptbotschaft."
Hooria Mashhour wuchs in Aden im Süden des Jemens auf und arbeitete zunächst als Lehrerin und Schulleiterin. Von 2000 bis 2011 setzte sie sich beim staatlichen Frauenkomitee für die Rechte von Mädchen und Frauen ein. Als die Proteste im Jemen begannen, legte sie ihr Amt nieder und ging auf die Straße. Nachdem der Präsident zurücktrat, wurde sie in der neuen Regierung zur Ministerin für Menschenrechte ernannt. Als 2015 der Krieg ausbrach, musste sie nach Deutschland fliehen. Aus dem Exil heraus engagiert sie sich in zahlreichen Friedensinitiativen für den Jemen.
"Ich bin Hooria Mashhour. Ich komme aus dem Jemen, aus Aden. Das ist eine sehr schöne Stadt. Man nennt sie auch: „der lächelnde Mund Jemens“. Aden liegt am Meer und hatte früher den drittgrößten Hafen der Welt nach Liverpool in Großbritannien und New York. Das war noch zur Zeit der britischen Besatzung. Heute hat sich die Lage im Jemen leider sehr verschlechtert. Deshalb arbeitet der Hafen nicht mehr mit voller Kapazität. Also, ich komme aus Aden."
Früher hast du als Lehrerin gearbeitet. Kannst du uns davon erzählen?
"DJa genau, ich habe im Bildungsbereich gearbeitet. Ich habe lange Zeit im Süden des Jemens als Lehrerin an einer Sekundarschule gearbeitet, später als Schulleiterin. Der Unterricht war gemischt: Mädchen und Jungen zusammen. Im Norden des Landes gab es das nicht. Die Gesellschaft dort war sehr konservativ. Aber wir im Süden waren eine britische Kolonie. Das hat uns stark geprägt, zum Beispiel unseren Lebensstil und die Regierungsform. Ich hätte auch im Außenministerium arbeiten können. Ich habe Wirtschaft studiert und als ich damit fertig war, hätte ich zum Beispiel im Außenministerium arbeiten können.
Aber ich hatte zwei kleine Kinder. Ich habe mich und meinen Mann in der Pflicht gesehen, uns um die Erziehung zu kümmern. Es war ja auch schwierig, die Kinder anderswo unterzubringen. Es gab keine Kindergärten oder Tagesmütter. Und so hatte ich keine andere Wahl, als im Bildungsbereich zu arbeiten. Aber als die Kinder erwachsen wurden, sagte ich: Das war's! Ich gehe zurück in den Bereich, wo ich eigentlich arbeiten wollte.
1994 bin ich von Aden nach Sanaa umgezogen, in die Hauptstadt des vereinigten Jemens. Wir hatten ja lange Zeit zwei Hauptstädte. Nach meinem Umzug erhielt ich einen Anruf vom Nationalen Frauenkomitee. Sie boten mir eine Stelle an. Am Anfang wollte ich gar nicht mit Frauen arbeiten. Ich dachte, das würde mir nur Kopfschmerzen bereiten. Und so bin ich stattdessen zum Bildungsministerium gegangen. Dort haben wir Qualifizierungsprogramme für Lehrkräfte entwickelt, vor allem in ländlichen Gebieten. Wir haben auch die Schulleitungen in unterschiedlichen Themen fortgebildet. Später wurde ich erneut vom Nationalen Frauenkomitee angerufen. Sie sagten, dass dort eine Stelle frei wäre. Sie sagten: Komm und arbeite mit uns. Aber ich habe wieder abgelehnt. Sie sagten: Aber du warst doch schon als Studentin politisch aktiv. Ich war nämlich Mitglied in der Jemenitischen Sozialistischen Partei.
Das war 1980. Aber kurz danach bin ich ausgetreten, und habe mich nicht mehr in der Partei engagiert. Manchmal sind Parteien wie Fesseln. Es ist besser, unabhängig zu sein. So kann man Kritik üben und auf Fehler hinweisen. Klar gibt es auch Selbstkritik in den Parteien, aber ich wollte frei sein. Deswegen bin ich aus der Partei ausgetreten. Aber als mich das Frauenkomitee erneut anrief, haben sie ganz schön Druck gemacht. Ich dachte: Ich probier's mal aus. Eigentlich wollte ich nur für eine Probezeit bleiben, so sechs Monate oder ein Jahr. Ich sammele gerne neue Erfahrungen. Ich mag es nicht, so lange in einer Stelle zu verweilen. Aber als ich dann beim Frauenkomitee angefangen habe, hat mir die Arbeit sehr gut gefallen. Unsere Arbeit bestand darin, politische Maßnahmen zu entwickeln, um die Lage der Frauen zu verbessern. Dafür haben wir recherchiert und Studien durchgeführt. Dadurch habe ich erst verstanden, wie die Lage wirklich ist.
Eigentlich dachte ich, dass es den Frauen gut ging. Mir selbst ging es ja gut: Ich hatte die Möglichkeit zu studieren, ich konnte Auto fahren. Für mich gab es keine Einschränkungen. Wir haben also zusammen mit der Universität Sanaa wissenschaftliche Studien durchgeführt. Wir haben auch vor Ort recherchiert, vor allem in ländlichen Gebieten. Und da ist mir klar geworden, wie schwierig die Lage für viele Frauen auf dem Land ist. Dazu muss man wissen, dass der Jemen zu 75 Prozent aus ländlichen Gebieten besteht. Viele Mädchen dort gingen nicht zur Schule. Und selbst wenn sie mit sechs oder sieben Jahren eingeschult worden waren, wurden sie oft schon mit 12 Jahren wieder aus der Schule genommen und verheiratet. Es gab kein gesetzliches Mindestalter für die Ehe. Das Gesetz besagte, dass der Vormund eines Mädchens entscheiden könne, ob sie geeignet wären für eine Ehe oder nicht. Das Gesetz ließ also sehr viel Freiraum.
Ein weiteres Problem war, dass viele Mädchen unterernährt waren. Bis zum Alter von 14 Jahren waren die Mädchen oft viel zu klein und dünn. Auch die Sterberate von Mädchen war besonders hoch, vor allem nach der Ehe und während der Schwangerschaft. Die Mädchen wurden ja mit 13 oder 14 schwanger, da kommt das natürlich vor. Mir hat es sehr gefallen, beim Frauenkomitee zu diesen Themen zu arbeiten. Ich habe angefangen, für die Frauenrechte zu kämpfen – mit voller Stärke. Zum Beispiel das Recht auf Bildung, vor allem für die Mädchen auf dem Land. Wir haben uns ans Bildungsministerium gewandt und an den Premierminister. Wir haben ihnen unsere Berichte gezeigt und politische Maßnahmen vorgeschlagen. Wir wollten die Kluft zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Mädchen aufzeigen, vor allem bei der Bildung. Und wir haben gefordert, dass diese Lage verbessert wird. Ich habe sehr lange für das Nationale Frauenkomitee gearbeitet. Ursprünglich wollte ich nur sechs Monate bleiben. Aber daraus wurden über zehn Jahre, von 2000 bis 2011 und sogar noch länger."
2011 begannen die Proteste im Jemen. Auch du bist auf die Straße gegangen. Was hat dich dazu gebracht?
"Als im Februar die Jugendrevolution begann, war ich tatsächlich eine der ersten Regierungsangestellten, die zurücktrat. Ich ging mit den Massen der jungen Leute auf die Straße, obwohl ich selbst gar nicht mehr jung war. Wir haben lautstark Reformen gefordert. Vor allem wollten wir, dass die Korruption aufhört. Aber leider kam keine Reaktion. Also habe ich die Chance ergriffen und bin mit den anderen auf die Straße gegangen. Sehr viele Menschen sind auf die Straße gegangen, haben dort Zelte aufgeschlagen und darin gewohnt. Sie kamen aus allen Teilen des Landes. Es gab zum Beispiel ein Zelt von Ibb und anderen Orten, ein Zelt der Anwält*innen und eins der Professor*innen. Es war eine breite, kulturelle Bewegung. Wir gingen in die Zelte, hielten Vorträge und haben viel diskutiert, über die Situation und darüber, wie es weitergehen kann. Natürlich hatten wir viele Probleme mit dem Regime und dem Geheimdienst. Ich hatte ja für eine staatliche Organisation gearbeitet.
Als ich gekündigt habe und auf die Straße gegangen bin, waren sie sehr wütend auf mich. Ich habe nicht auf dem Platz übernachtet, den wir den „Platz der Freiheit und des Wandels“ nannten. Ich bin immer nach Hause gefahren. Ich hatte das Gefühl, dass ich verfolgt wurde. Eine Abaya [traditionelles Gewand] ist da manchmal hilfreich, um sich zu verbergen. Also habe ich manchmal eine Abaya angezogen oder sogar einen Niqab [Gesichtsschleier], bevor ich aus dem Haus gegangen bin. So wollte ich dem Geheimdienst und der Verfolgung entgehen. Ich bin nie mit meinem eigenen Auto gefahren. Ich bin immer mit dem Taxi zum Platz gefahren. Viele Frauen haben Angst vor der Politik und glauben, das sei ein Männerberuf. Denn uns ist bewusst, dass in der Politik manchmal Gegner*innen verhaftet, gefoltert oder entführt werden. Die Familien hindern die Frauen daran, politisch aktiv zu werden. Viele Frauen haben wirklich Angst vor der Arbeit im öffentlichen Raum und insbesondere in der Politik.
Und deshalb hat uns eines sehr überrascht: Auf dem „Platz der Freiheit und des Wandels“, ich beziehe mich jetzt nur auf Sanaa, weil ich dort war, auf diesem Platz war eine erstaunliche Anzahl von Frauen. Junge Frauen, verschleierte Frauen, konservative Frauen und Frauen, die ihre Kinder in den Zelten gestillt haben. Die Anwesenheit so vieler Frauen war sehr auffällig und ein starkes Zeichen. Die jungen Menschen haben den Platz bewacht. Aber trotzdem haben sich die Mitarbeitenden des Geheimdienstes eingeschlichen. Sie wussten über unsere Aktivitäten Bescheid, über alles, was wir taten. Sie haben Zuckerbrot und Peitsche angewendet. Zum Beispiel haben sie mich kontaktiert. Sie sagten, sie könnten mein Gehalt erhöhen und mir eine bessere Position geben. Ich antwortete: „Nein, ich bin nicht hier für mich selbst.“ „Ich bin hier im Namen der Menschen.“ Meine Lebensumstände waren gut, mir fehlte nichts. Viele meiner Kolleg*innen haben mich gefragt, warum ich überhaupt auf die Straße gehe. Sie dachten wahrscheinlich, dass nur arme Menschen demonstrieren. Aber für mich war das keine persönliche Angelegenheit. Wir verteidigten die Gesellschaft und das Land. Wir verteidigten das Recht auf einen Staat mit guter Regierungsführung. Wir wollten, dass die Menschen im Jemen ein menschenwürdiges Leben führen. Ein Leben in Gerechtigkeit und mit Menschenrechten. Das ist, was wir wollten. Es war keine persönliche Motivation. Es ging um das Land, um meine Landsleute. Das war die Geschichte."
Hattest du keine Angst?
"Die Sache, für die wir kämpften, war viel größer als die Angst. Schon als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich keine Angst. Wenn die britischen Panzer vorbeifuhren, haben wir sie mit Steinen beworfen. Das war ungefähr 1967, also bevor wir unsere Unabhängigkeit erlangt haben. Die Erwachsenen haben sich damals darauf verlassen, dass wir die Flugblätter verteilen. Wir Kinder waren nicht im Visier der britischen Soldaten. Die Erwachsenen hatten Angst vor den Briten. Sie haben sich versteckt, um der Verfolgung zu entgehen. Also haben wir die Flugblätter verteilt. Wir schrieben an die Wände: „Raus mit euch! Raus mit der Besatzung!“ Wir wollten, dass sie unser Land verlassen. Wir wussten, dass es unwahrscheinlich war, dass uns Kindern etwas passierte. Damals war ich 12 oder 13 Jahre alt. Diese Erfahrung habe ich also schon als Kind gemacht."
Die Proteste im Jemen brachten den Präsidenten schließlich zum Rücktritt und es gab Neuwahlen. In der neuen Regierung wurdest du Ministerin für Menschenrechte.
Du hast einen Gegenstand aus dieser zeit mitgebracht. was ist die Geschichte dahinter??
"Ich habe diesen Schal mitgebracht. Damit verbinde ich sehr viele Erinnerungen. Ich hatte ihn an, als ich in Ruanda war. Da sprach mich ein Teilnehmer an, der auch aus Sanaa kam. Er sagte: „Ich mag diesen Schal sehr.“ Ich fragte warum. Er sagte: „Sie hatten ihn an,“ „als Sie vor dem Zentralgefängnis mit uns protestiert haben.“ Dort waren einige Menschen lange eingesperrt. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Bombenanschlag auf den Präsidenten verübt zu haben. Sie wurden ohne Verurteilung, ohne Rechtsgrundlage ins Gefängnis gesteckt. Deshalb forderte ich ihre Freilassung. Es gab überhaupt keine Beweise. Die Staatsanwaltschaft darf Menschen nur so lange in Haft behalten, bis sie Beweise vorlegt. Aber es wurden keine Beweise geliefert. Also mussten sie freigelassen werden. Also, dieser junge Mann sagte zu mir: Sie haben mit uns protestiert. Ich konnte mich nicht mehr an ihn erinnern. Es waren sehr viele Leute dort. Aber er sagte, dass er sich gut erinnern könne und dass es sogar ein Video auf YouTube davon gebe. Er sagte: „Sie sind sogar in einen Hungerstreik getreten, bis sie freigelassen wurden.“ Danach rief mich der Innenminister an: „Du bist doch Ministerin!“ „Du gehörst nicht zur Zivilgesellschaft. Du protestierst allen Ernstes mit ihnen?!“ Ich sagte: „Ich bin die Ministerin für Menschenrechte.“ „Es ist meine Aufgabe, die Rechte der Menschen zu verteidigen.“"
2015 wurde die Lage im Jemen immer gefährlicher. Du musstest eine schwere Entscheidung treffen. Kannst du uns davon erzählen??
"Der Krieg hat 2015 angefangen. Es gab es viele Opfer: Tote, Verwundete, Kriegsversehrte. Die humanitäre Lage im Jemen ist in jeder Hinsicht katastrophal. Kriege bringen nur Katastrophen. Es gibt nichts Gutes daran. Wir als Frauen haben uns gegen den Krieg gestellt. Wir haben die Konfliktparteien aufgefordert, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Denn es gab ja tatsächlich Verhandlungen. Zehn Monate dauerten die Verhandlungen in der Nationalen Dialog-Konferenz, die damals im Jemen stattfand. Es nahmen über 565 Menschen aus allen politischen Parteien und Gruppierungen teil, aus unterschiedlichsten Regionen des Landes. Alle waren vertreten: Die Jugend und auch zum ersten Mal die Frauen. Der Anteil der Frauen betrug bei dieser Konferenz mehr als 30 Prozent. Es nahmen viele vielversprechende junge Frauen teil, mit Fachwissen in verschiedenen Bereichen wie Recht, Wirtschaft und Politik. Die Frauen haben sich aktiv beteiligt, wir waren nicht nur Dekoration! Und es gab wirklich Ergebnisse, die für alle fair waren. Diese Ergebnisse haben die neue Verfassung prägt. Wir dachten, wenn wir diese Ergebnisse umsetzen würden, würden wir zu einem zivilen Staat übergehen. Einem modernen Staat. Einem Staat, in dem gute Regierungsführung bedeutet, dass alle Menschen ihre Rechte genießen. Aber leider ist das nicht geschehen. Es kam zum Putsch.
So brach der Krieg aus. Viele Menschen wurden gezwungen, das Land zu verlassen auf der Suche nach Sicherheit. Andere sind innerhalb des Landes in die Gebiete geflohen, die weniger gefährlich waren – zumindest vergleichsweise. Deswegen gab es über zwei Millionen Geflüchtete innerhalb des Jemens. Und mehr als eine Million Menschen sind aus dem Land geflohen. Ganz genaue Statistiken gibt es darüber nicht. Ich selbst habe den Jemen im Februar 2015 verlassen. Ich wurde von „UN Women“ zu einer Konferenz nach Kairo eingeladen. Dort wollten wir die Lage der Frauen im Jemen diskutieren. Die Situation im Land hatte sich verschärft. Es gab zwar bereits vor 2015 einen Konflikt im Jemen, aber nicht in diesem Ausmaß. Viele meiner Freunde und Familienangehörigen rieten mir, eine Zeit lang außer Landes zu bleiben. Denn die Situation war sehr angespannt und das bedeutete, dass auch ich ins Visier genommen werden könnte. Das war die schwerste Entscheidung, die ich je in meinem Leben treffen musste. Ich habe lange gezögert, weil ich an meine Mutter dachte. Ich dachte an meine Geschwister, Nachbar*innen, Freund*innen.
Ich habe viele Freund*innen im Jemen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Meine Tochter und ihr Mann dachten darüber nach, nach Kanada auszuwandern. Deshalb fragte ich mich: Wohin soll ich gehen? Meine Kinder arbeiten ja in verschiedenen Ländern. Ich hatte ein Visum für Deutschland, Großbritannien und für die USA. Ich weiß nicht, warum, aber mein Herz sagte mir: Geh nach Deutschland. Also beantragte ich dort Asyl. Das war wirklich eine sehr schwierige Zeit. Im Flugzeug habe ich so viel geweint. Ich habe mit den anderen Menschen mitgefühlt, die eine solche Krise erleben und ihr Land verlassen müssen. Ich bin nicht mehr die Jüngste. Mein Leben noch einmal von vorne zu beginnen, noch einmal die Sprache zu lernen, mir neue Fähigkeiten anzueignen um arbeiten zu können... Ich stand ja schließlich kurz vor der Rente. Alle meine Pläne beruhten darauf, in meinem Land zu bleiben.
Ich hatte mein Haus in Aden, in Sanaa, mein Auto... Alles, was ich hatte, war in meinem Land. Aber leider musste ich fliehen, weil mein Leben nicht sicher war. In manchen Momenten habe ich auch gar nicht an mein Leben gedacht. Sollen sie mich doch umbringen, was soll's? Aber ich hatte trotzdem Angst, denn leider werden gerade Frauen oft erpresst. Man hat dann Angst vor Verleumdung, vor einem moralischen Attentat. So etwas ist vielen Frauen passiert. Unsere Gesellschaft ist sehr konservativ. Man muss auf seinen Ruf aufpassen. Man möchte nicht, dass sein Ruf in irgendeiner Weise beschädigt wird. In den ersten Monaten... Schon am Flughafen hatte ich Zweifel und wollte umkehren. Ich habe sehr viel geweint. Aber dann dachte ich: Wenn ich zurückkehre, was ist dann mit den ganzen Ratschlägen, die ich bekommen hatte? Alle hatten mir gesagt, ich solle solange bleiben, bis der Frieden zurückkehrt. Die erste Zeit in Deutschland war sehr schwer. Ich habe die ganze Zeit die Nachrichten aus dem Jemen verfolgt. Zu dieser Zeit hat sich die Lage immer weiter verschärft. Es gab viele Anschläge und viele Menschen wurden getötet. Der Kontakt zu meinen Eltern war immer wieder unterbrochen. Das war sehr schmerzhaft für mich. Vor allem, als sie mir immer wieder sagten, dass sie keinen Strom haben, keine Nahrung, kein Wasser. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, weil ich immer sauberes Wasser und Strom hatte. Ich konnte mein Handy jederzeit einfach so aufladen und in Kontakt mit den Menschen bleiben."
Wer hat dir in dieser schwierigen Zeit die Kraft gegeben, weiter zu machen?
"Ich versuche, mich so viel wie möglich zu beschäftigen. Ich könnte Tag und Nacht arbeiten, damit meine Probleme nicht im Mittelpunkt stehen und mich vereinnahmen. Zum Beispiel erhielt ich im Jahr 2000 die Diagnose Brustkrebs. Ich flog nach Großbritannien und der Arzt sagte mir, dass meine Überlebenschancen niedrig seien. Ich sagte: „Wenn ich sterbe, dann sterbe ich halt.“ „Das ist eine Sache, die sowieso passieren wird.“ Der Arzt war sehr überrascht von meiner Reaktion. Aber ich konnte das ja nicht ändern. Danach kehrte ich zurück in dem Jemen und zu meiner Arbeit im Nationalen Frauenkomitee. Eigentlich hätte ich zu Hause bleiben und mich ausruhen sollen von der Chemotherapie. Meine Haare, Augenbrauen und Wimpern sind ausgefallen. Alle sagten, ich solle zu Hause bleiben und mich ausruhen. Ich sah, dass sie Mitleid mit mir hatten. Sie hatten das Gefühl, sich verabschieden zu müssen, weil ich sterben würde. Aber ich habe nicht aufgegeben. Mein Gedanke war, dass ich bis zum letzten Tag meines Lebens etwas Gutes tun wollte. Dann wäre alles gut. Also habe ich weitergearbeitet. Als ich nach Deutschland kam, war das ähnlich.
Ich wollte meinen Schmerz nicht spüren und habe mich in die Arbeit versenkt. Zuerst in die Arbeit mit anderen Geflüchteten. In unserem Ort gab es zum Beispiel viele Geflüchtete aus Syrien. Sie haben mich immer wieder gebeten, ihnen beim Übersetzen zu helfen, besonders die Frauen. Sie wollten keine männlichen Übersetzer, vor allem, wenn es um Themen wie Schwangerschaft oder so etwas ging. Ich war immer erreichbar. Sie konnten mich immer anrufen. Ich habe mich gefreut, dass ich eine Aufgabe hatte und arbeiten konnte. Danach hat meine Tochter mich eingeladen. Sie hat die „Peace Path Initiative“ [Deutsch: Friedensweg-Initiative] gegründet. Sie lud mich ein, noch einmal aktiv zu werden für den Frieden. Und so habe ich mit dem Büro der Vereinten Nationen zusammengearbeitet. Wir waren dort acht Frauen. Das nannte sich eine „technische Beratungsgruppe“. Ich war von 2019 bis 2022 in dieser Gruppe tätig. Wir wollten Einfluss auf das Delegationsbüro der Vereinten Nationen nehmen. Wir haben gefordert, dass Frauen im Friedensprozess auf allen Ebenen vollständig einbezogen werden. Frauen müssen an den offiziellen Delegationen teilnehmen. Wir haben Druck ausgeübt auf alle Parteien, dass ihre weiblichen Mitglieder dort vertreten sein müssen. Druck auf die Regierung, auf die Huthis, auf alle Stämme! Wir sagten: Nein, ihr müsst die Frauen im ganzen Friedensprozess einbeziehen! Die Männer sagten: Ihr Frauen könnt in einem anderen Bereich arbeiten, nämlich im Bereich der Zivilgesellschaft. Das machen wir auch. Wir arbeiten sogar viel mehr als sie!
Im Gegensatz zu ihnen haben wir nämlich eine Vision für den Frieden und daran arbeiten wir. Wir haben mit Vertreter*innen aus unterschiedlichen Teilen des Landes und aller Parteien diskutiert. Mit dieser Arbeit haben wir nie aufgehört. Aber jetzt seid ihr Männer dran! Ihr müsst die Ergebnisse der Nationalen Dialogkonferenz umsetzen! Und zwar, dass 30 Prozent der Beteiligten Frauen sein müssen - an allen Friedensprozessen! In allen Bereichen des Landes, auf allen Ebenen! Unsere Vision hat drei Säulen. Dazu gehören die Menschenrechte und die Gleichberechtigung. Aber wenn wir den Männern das Feld überlassen, werden wir Frauen leider nicht berücksichtigt, zum Beispiel in den politischen Prozessen und beim Frieden. Aber wir Frauen arbeiten schon jetzt am Friedensprozess. Wir arbeiten sehr hart daran, auch wenn die Männer in Entscheidungspositionen manchmal versuchen, unsere Bemühungen zu ignorieren. Wir sind fest entschlossen, dabei zu sein. Schließlich geht es um unser Land. Wir brauchen dazu keine Einladung! Wir werden unsere Stühle selbst mitbringen und uns mit an den Tisch setzen. Und wir werden uns für die Stimme der Mehrheit einsetzen, die Stimme der Zivilgesellschaft!"
Was gibt dir Hoffnung für die Zukunft?
"Hoffnung ist die innere Stärke, die wir Frauen besitzen. Der Glaube, dass das eine gerechte Sache ist, dass wir auf jeden Fall überleben werden. Egal, was passiert. Ich war gerade in Ruanda. Dort gab es auch einen Krieg. Es wurde für ungefähr drei Monate lang gekämpft, von April bis Juli. In dieser Zeit gab es ein Massaker mit mehr als 800.000 Opfern. Ich besuchte dort ein Modelldorf. Da leben diejenigen, die das Massaker begangen haben. Sie haben getötet und vergewaltigt. Und sie leben dort zusammen mit den Überlebenden und den Familien der Opfer. Sie haben erkannt, dass es in einem Bürgerkrieg keine Sieger gibt. Alle verlieren. Natürlich war das Zusammenleben am Anfang sehr schwierig für sie. Also ja: Wir haben wirklich Hoffnung. Aber es geht nicht ohne Arbeit. Deshalb hoffen und arbeiten wir, um den Jemen aus der Krise zu holen. Wir wollen das Land durch diesen Tunnel tragen und zum Horizont des Friedens führen."
Quelle: Video-Transkript von https://youtu.be/cwUynRDvtq0?feature=shared
Dieser Text ist Teil der multimedialen Ausstellung "Gesichter des Friedens" von Pro Peace
Die Plakate sind zu sehen vom 2. - 30.6.2025 im 2. Obergeschoss der Stadtbibliothek Braunschweig (Lesesaal).