-- Ergänzung zur Ausstellung : Video-Interview als Lesetext. --
"Das sind meine Waffen gegen die Taliban: dieses Tablet und mein Stift! Ich habe alle meine Kunstwerke mit diesem Tablet geschaffen. Ich habe es noch aus Afghanistan und es ist mir wirklich wichtig. Es ist wie ein guter Freund für mich, weil ich meine ganze Kunst damit mache. Auch heute noch arbeite ich nur mit diesem Tablet.
Sayed Muhammad Hussaini ist Künstler und Karikaturist aus Afghanistan. Das Zeichnen brachte er sich selbst bei. In Afghanistan illustrierte er Kinderbücher und politische Kampagnen. Er erlebte, wie die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen. In seinen Zeichnungen, die er in sozialen Medien veröffentlichte, prangerte er die Unterdrückung von Frauen und Mädchen an. Heute lebt er in Deutschland und nutzt seine Kunst weiterhin als Sprachrohr für Frieden und Frauenrechte.
Wie hast du mit dem Zeichnen angefangen?
"Ich wurde im Norden Afghanistans geboren, in Masar-e Scharif. Das liegt in Balch, einer Provinz im Norden des Landes. Dort bin ich aufgewachsen. Schon als Kind habe ich gerne gezeichnet. Das war immer mein großes Hobby. Aber leider gab es keinen offiziellen Studiengang in Grafikdesign, wo ich hätte lernen können, wie man digitale Cartoons zeichnet. Aber weil ich unbedingt Künstler werden wollte, habe ich einfach angefangen zu lernen. Das meiste habe ich mir einfach selbst beigebracht. Ich habe YouTube-Videos geschaut und Artikel über Kunst gelesen. Ich habe sehr hart gearbeitet. So konnte ich meine Fähigkeiten im Grafikdesign und als Cartoonist verbessern. Später zogen wir nach Kabul im Zentrum von Afghanistan. Ich arbeitete als Grafikdesigner für die Regierung.
Am Anfang war das ziemlich schwierig. Diese Art von Kunst war neu in Afghanistan, vor allem die Cartoon-Poster. Ich weiß noch, dass ich mich am Anfang sehr anstrengen musste, um überhaupt etwas zu veröffentlichen. Sie sagten mir: Solche Zeichnungen sind unpassend für die offizielle Webseite der Regierung. Aber schließlich habe ich sie überzeugt. Ich habe es geschafft, das erste Cartoon-Poster auf den offiziellen Social-Media-Kanälen der Regierung zu veröffentlichen. Als Grafikdesigner habe ich Plakate und Videos gestaltet. Wir haben auch Kampagnen entworfen, vor allem gegen die Verbrechen der Taliban. Wir haben die Plakate für die Kampagnen gestaltet. Es ging um Gewalt gegen Frauen. Wir hatten verschiedene Arbeitsgruppen. Eine Gruppe hat die Texte verfasst, und zwar anhand des Korans, dem heiligen Buch des Islams. In dem Text ging es darum, Frauen gut zu behandeln. Das waren Auszüge aus dem Koran. Diese Texte habe ich dann bebildert und eine Reihe von Plakaten gezeichnet.
Außerdem habe ich im Kultursektor gearbeitet. Ich habe über 16 Bücher für Kinder gezeichnet. Denn in Afghanistan ist es wirklich schwer, Kinderbücher zu finden, die komplett in Afghanistan produziert wurden. Alle Bücher kamen aus den Nachbarländern, vor allem aus dem Iran. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, als meine Freund*innen und ich Bücher herausgegeben haben, die komplett in Afghanistan entworfen und gedruckt wurden. Eines dieser Bücher handelt von einem kleinen Mädchen. Sie hat einen Traum, aber sie muss viele Probleme überwinden: Probleme, wie sie vielen Frauen und Mädchen in Afghanistan begegnen. Am Ende gelingt es ihr aber ihren Traum zu verwirklichen."
Im August 2021 übenahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Du warst damals in Kabul. Wie hast du diese Zeit erlebt?
"Es war im August. In dieser Woche ging es den Menschen in ganz Afghanistan überhaupt nicht gut, denn die Taliban rückten auf die Hauptstadt vor. Diese Zeit war wirklich schlimm. Alle hatten große Angst. Am 15. August kamen sie in die Stadt. Ich erinnere ich mich, dass wir im Büro waren. Wir haben ganz normal gearbeitet. Dann kam ein Kollege und rief: „Die Taliban sind in Kabul! Ihr müsst von hier verschwinden! Sucht euch ein Versteck!“ Das war ein schrecklicher Tag! Als ich das Regierungsviertel verließ, sah ich, wie verängstigt die Menschen waren. Alle versuchten, irgendwie zu fliehen. Es war echt richtig schlimm! Das werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen.
Ich weiß noch, wie ich vom Büro vier Stunden lang nach Hause gelaufen bin. Ich hatte solche Angst. Ich war zu Fuß unterwegs und habe ständig Umwege gemacht, um den Taliban auszuweichen. Es wusste ja niemand, was sie tun würden oder hinter wem sie her wären. Vor allem, weil wir so viele Materialien gegen ihre Verbrechen veröffentlicht hatten. In der Regierungsbehörde waren alle meine Daten gespeichert: mein Foto, meine Familie, meine Adresse... All das war im Büro und jetzt war es bekannt! Das hat meinen Kolleg*innen und mir große Angst gemacht.
Die meisten konnten fliehen. Einigen gelang es, in die USA zu gehen. Andere kamen nach Deutschland. Aber diejenigen, die in Afghanistan blieben, standen unter Schock und hatten große Angst. Ich musste in dieser Zeit auch mein Aussehen ändern. Ich ließ mir den Bart und die Haare wachsen. Das alles war ein Schock. Ich konnte es nicht glauben! All meine Träume, unsere Träume, die Träume der jungen Generation… verloren an nur einem einzigen Tag! Es war furchtbar! Ich habe so viel geweint! Jeden Tag habe ich beim Aufwachen gehofft, dass alles nur ein böser Traum wäre. Aber ich habe alles mit meinen eigenen Augen gesehen. Die Taliban waren überall. Ich konnte es nicht glauben!
Nach kurzer Zeit begann ich zu zeichnen. Wenn ich zeichne, beruhigen sich meine Gedanken. All der Schmerz, all die Probleme… Ich kann sie zu Papier bringen. Ich fühle mich gut, wenn ich zeichne, besonders zu dieser Zeit. Also fing ich an zu zeichnen, vor allem gegen die Verbrechen der Taliban. Meine Bekannten, meine ehemaligen Kolleg*innen und meine Familie sagten: „Bitte hör auf!“ Denn die Taliban hatten die Macht übernommen und niemand wusste, was sie mit denjenigen tun würden, die gegen sie arbeiten. Aber ich konnte meine Gefühle nicht kontrollieren. Ich konnte nicht gleichgültig bleiben angesichts des Unrechts, das ich mitansehen musste. Also begann ich zu zeichnen. Meine Zeichnungen veröffentlichte ich auf meinen Social-Media-Kanälen. Ich entfernte alle meine persönlichen Fotos und zeichnete, zeichnete, zeichnete. Ich zeichnete über die Probleme und die Einschränkungen durch die Taliban, besonders für die afghanischen Frauen.
Das ist keine neue Sache in Afghanistan. Aber als die Taliban kamen, wurden diese Probleme von Tag zu Tag größer. So begann ich, über die Frauen in Afghanistan zu zeichnen. Meine starke Überzeugung für die Gleichberechtigung treibt mich an, ihnen eine Stimme zu geben durch meine Kunst. Denn die Frauen in Afghanistan dürfen nicht zur Schule gehen oder studieren. Sie dürfen nicht arbeiten. Oft dürfen sie nicht einmal vor die Tür gehen ohne männliche Begleitung. Das ist schrecklich! Man kann sich das kaum vorstellen: Nur weil du eine Frau oder ein Mädchen bist, darfst du nicht tun, was du willst! Ich habe meine ehemaligen Kolleginnen angerufen. Sie waren so talentiert und gebildet. Sie hatten alle Abschlüsse von guten Universitäten. Viele von ihnen hatten sogar im Ausland studiert. Aber sie durften nicht mehr arbeiten! Sie durften überhaupt nichts mehr! Sie mussten einfach zu Hause bleiben.
Es hat mir das Herz gebrochen, diese Probleme unserer Frauen mitanzusehen. Ich habe versucht, diesem Teil unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben. Denn aus meiner Sicht brauchen sie das dringend. Sie mussten so viele Einschränkungen erleiden, einfach nur weil sie als Frauen in Afghanistan leben. Und niemand kümmert sich um ihr Schicksal. Also habe ich versucht, ihre Probleme und ihre Träume zu zeichnen und all die Einschränkungen darzustellen. All die Dinge, die den Frauen in Afghanistan heutzutage verwehrt werden, sind in anderen Ländern ganz normale Grundrechte. Aber in Afghanistan können sie nur davon träumen, zur Uni zu gehen, besonders heutzutage! Es gibt immer noch viele starke Frauen. Sie gehen auf die Straße, protestieren gegen die Taliban und fordern ihre Rechte. Aber viele von ihnen sind aus Afghanistan geflohen. Und diejenigen, die noch da sind, kämpfen noch immer für ihre Rechte!
Nach dem 15. August 2021 habe ich mich zunächst versteckt, wegen der Dinge, die ich gegen die Verbrechen gesagt hatte. Ich blieb versteckt und habe einfach nur gezeichnet. Ich blieb etwa viereinhalb oder fünf Monate in Afghanistan. Danach hat mir eine Freundin, die in Spanien lebte, geschrieben. Sie fragte: „Wo bist du?“ Sie fragte besonders wegen meiner Zeichnungen. „Wo bist du?“ Ich sagte ihr, dass ich immer noch in Afghanistan sei. Da beschloss sie mir zu helfen, denn es ist wirklich gefährlich in Afghanistan, besonders für Journalist*innen und für diejenigen, die gegen die Verbrechen arbeiten. Denn alle wissen, was die Taliban mit denen machen, die gegen sie arbeiten. Also schickte ich ihr meine Dokumente und Infos zu meiner Arbeit. Und sie half mir aus Afghanistan herauszukommen.
Als ich nach Deutschland kam, habe ich gesehen, wie frei die Frauen hier sind. Das hat mich motiviert, den Frauen in Afghanistan weiterhin eine Stimme zu geben. Ich habe es geschafft eine Ausstellung in Potsdam zu zeigen. Dafür habe ich meine Kunstwerke gedruckt, die die Probleme und Einschränkungen der Frauen in Afghanistan zeigen. Ich habe auch eine Info-Broschüre darüber gemacht, was zurzeit in Afghanistan passiert. Die habe ich an all die Leute verteilt, die die Ausstellung besucht haben. Die meisten von ihnen haben schon von den Taliban gehört, aber sie wissen nicht viel über die Situation in Afghanistan. Ich versuche, den Frauen eine Stimme zu geben und die Probleme aufzuzeigen.
Meine Hoffnung ist… Weißt du, ich bin ja nur ein Künstler. Ich kann den Frauen nicht direkt helfen. Meine Aufgabe als Künstler ist es, die Probleme zu zeigen. Und das Wichtigste ist, dass alle wissen, was in Afghanistan passiert. Und ich sage allen, die mich nach meiner Kunst und meinen Überzeugungen fragen: Bitte vergesst Afghanistan nicht! Vergesst die afghanischen Frauen nicht!
Mich motiviert die Überzeugung, dass Empowerment und Gleichberechtigung für eine Gesellschaft unerlässlich sind, besonders für eine Gesellschaft wie Afghanistan. Ohne das kann es keine friedliche Gesellschaft geben. Und ich hoffe, dass ich andere dazu inspirieren kann, sich ebenfalls für Frieden, Gleichberechtigung und die Rechte der Frauen einzusetzen – in Afghanistan und überall."
Hat sich deine Kunst in Deutschland verändert?
"Als ich hierherkam, habe ich eine neue Kollektion entworfen. Es sind weibliche Figuren und der Stil ist eine Mischung aus westlichen und afghanischen Elementen. Denn ich möchte auch die Schönheit Afghanistans zeigen. Die Taliban und ihr Verhalten sind nicht die afghanische Kultur. Das ist nicht der echte Islam. Ich habe diese Kollektion entworfen um allen zu zeigen: Bei uns gibt es auch schöne Dinge! Wir haben eine schöne Kultur, gutes Essen, schöne Kleidung. Eine wunderschöne und alte Kultur. Die wahre afghanische Kultur ist schön und gut. Aber leider wird das oft übersehen! Denn wenn über Afghanistan gesprochen wird, ist immer nur die Rede von Krieg, Armut und Problemen. Aber man kann immer noch Gutes in Afghanistan finden!
Die Taliban sind nicht die echte afghanische Kultur. Die meisten Menschen in Afghanistan sind mit ihrer Herrschaft nicht einverstanden. Viele junge Leute wie ich haben Afghanistan wegen der Taliban verlassen. Aber ich bin mir sicher, dass sie dortgeblieben wären, wären die Taliban nicht gekommen. Denn sie lieben ihr Land! Sie hatten Hoffnung! Sie wollten ihr Land nicht verlassen! Aber als die Taliban kamen, hatten sie keine andere Wahl.
Ich habe dieses Bild vor fünf Monaten in Deutschland gemalt.
Damit möchte ich zeigen, was in Afghanistan passiert. Wir sehen hier eine alte Frau. Sie trägt eine Burka. Das Wetter ist kalt, überall ist Schnee. Sie sitzt auf dem nassen Boden. Auf der einen Seite ist ein Taliban-Kämpfer, auf der anderen Seite eine normale Person. Im Hintergrund ist ein Teil der Taliban-Flagge zu sehen. Ich möchte damit auf die schlimme Situation der Frauen unter den Taliban aufmerksam machen.
Unter dem aktuellen Regime dürfen sie weder arbeiten noch studieren. Aber es ist in Ordnung, wenn sie auf der Straße betteln?! Was ist das für eine Ideologie?! Man verbietet ihnen zu arbeiten, aber sie dürfen auf der Straße betteln. Ich finde das wirklich schlimm und schockierend! Und ich bin sicher, dass alle Menschen schockiert sind, wenn sie erfahren, was in Afghanistan passiert."
Und was ist auf diesem Bild zu sehen?
"Dieses Bild habe ich noch in Afghanistan gemalt. Da fingen die Einschränkungen und die extremistische Herrschaft gerade an.
Es zeigt eine Frau mit einem afghanischen Kleid. Sie versucht dieser Ideologie zu entfliehen. Die Taliban-Kämpfer sind hinter ihr her. Denn für sie zählt nur: „Du bist ein Mädchen! Du bist eine Frau!“ „Du darfst nicht entscheiden, was du anziehst!“ „Du darfst nicht allein nach draußen gehen!“
Als Künstler werde ich auch weiterhin Bilder zeichnen über Afghanistan und die afghanischen Frauen. Frieden bedeutet für mich, sich gegenseitig zu respektieren und einander nicht einzuschränken. Besonders Respekt für die Gleichberechtigung und einfach ein normales Leben führen zu können in Afghanistan! Ich hoffe, dass ich das eines Tages erlebe. Eigentlich ist das ja auch kein großer Traum. Hier ist das alles ganz normal. Aber für viele afghanische Mädchen ist es ein großer Traum ein normales Leben zu führen. Ich denke, wenn sie das erreichen, wird die Gesellschaft friedlicher sein und die Zukunft Afghanistans wird heller und besser!"
Quelle: Video-Transkript von https://youtu.be/dm-1dntREaU?feature=shared
Dieser Text ist Teil der multimedialen Ausstellung "Gesichter des Friedens" von Pro Peace
Die Plakate sind zu sehen vom 2. - 30.6.2025 im 2. Obergeschoss der Stadtbibliothek Braunschweig (Lesesaal).