Komplementär zu den und quasi als Fortsetzung der „Herrlich modernen Zeiten“ ist bis zum 26. 01. 2015 die Ausstellung „Schrecklich kriegerische Zeiten“ im Landesmuseum zu sehen, die die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ - also den 1. Weltkrieg - aus einer speziellen Perspektive präsentieren will: „Sie blickt aus der Perspektive der Soldaten und ihrer Angehörigen aus der Braunschweiger Region auf die Geschichte des Großen Krieges. Die Ausstellung endet nicht mit dem Frieden im Jahr 1918, sondern verfolgt weitreichende politische Auswirkungen über den Zweiten Weltkrieg hinaus bis in die Gegenwart“ (Ausstellungskatalog, S. 9), hat also den Anspruch, das Geschehen nicht aus der Sicht der großen Entscheidungsträger und Strategen zu beleuchten, sondern konsequent den Standpunkt von deren Objekten einzunehmen. - Dies mit der Zielstellung, „neue Perspektiven auf historische Schlüsselerlebnisse“ (Katalog; ebd.) zu ermöglichen und als Museum nicht nur „Bildungs- und Lernort“ (Katalog; ebd.) zu sein, sondern auch „emotionale Erinnerung“ und „assoziatives Denken“ (Katalog; ebd) zu ermöglichen.
Nun sind „neue Perspektiven“ kein Wert an sich und es fragt sich, welche Art von Bildung und Lernen mit dem Besuch der Ausstellung tatsächlich befördert wird. - Die – wenn man so will - „Mikroperspektive“ macht nur dann Sinn, wenn sie Mittel auch zur Erkenntnis der „globalen“ Zusammenhänge ist bzw. diese ergänzt. - Neugierig darauf geworden, wie bzw. ob dieser Spagat zwischen dem Besonderen und Allgemeinen gelöst worden ist, besuchte ich die Ausstellung.
Fazit: In der Beschränkung zeigt sich bisweilen der Meister bzw. die Meisterin; wird sie allerdings bis zu den hier gezeigten Konsequenzen getrieben, bleibt nur Beschränktheit: In einem zentralen Segment der Ausstellung (die Rekonstruktion eines Schützengrabens) eingelassen sind Feldpostbriefe, Bilder von Braunschweigischen Soldaten „im Felde“, vom Begräbnis eines gefallenen Oberstleutnants aus Braunschweig, vom Besuch des Herzogspaares bei den Truppen in Belgien (Apropos Belgien: Vor diesem Hintergrund wirkt eine kleine Hinweistafel zum Massaker in Roselies eher unscheinbar und marginal).- Es sind Dokumente individueller Erwartungen, Hoffnungen, Ängste, der Erfahrungen mit dem Grauen des „modernen“ Krieges, Bilder von einer Exekution, von im Schützengraben lasziv rauchenden Offizieren. Man nimmt den Eindruck mit: der 1. Weltkrieg war jenseits der hurrapatriotischen Propaganda eine grässliche Angelegenheit. - Das ist allerdings mittlerweile alles schon lange bekannt und hinreichend dokumentiert. - Die „neue Perspektive“ verliert sich im Leeren.
Die Antwort auf weitergehende Fragen: Wie konnte es zu diesem Gemetzel kommen? - War der Weg in den Krieg determiniert? - Welche Interessen und Faktoren mussten zusammenkommen, um auslösend zu wirken? … konnte man sich von einer Karte zu den Bündniskonstellationen bzw. einem Einführungsfilm im Eingangsbereich erhoffen. - Die Ursachendarstellung bleibt jedoch rein deskriptiv, Tiefenschärfe wird nirgendwo geboten. Dies alles zeigt: Ein Gespür dafür, dass die Arbeit am historischen Gegenstand nur im Spannungsfeld der Fragen nach Einmaligkeit und Weiterwirkendem zu produktiver Auseinandersetzung führen kann, war offensichtlich nicht vorhanden.
Entsprechend der insgesamt „impressionistischen“ Ausstellungskonzeption sieht sich die/der geneigte Besucher/in mit einer disparaten Abfolge der verschiedenen Ausstellungssegmente konfrontiert (unter anderem noch: die Novemberrevolution in Braunschweig, Gedenkstätten- und Kriegsgräberkultur, ...).
Auch der Anspruch: „... die weitreichenden politischen Auswirkungen über den Zweiten Weltkrieg hinaus“ (Katalog; S. 9) verdeutlichen zu wollen, wird nicht eingelöst: Das im Endteil der Ausstellung angesiedelte Pantheon der Biografien von u. a. Klagges, Jasper, Faßhauer, Jeckeln, Keitel … transportiert eine durchaus zwiespältige Botschaft: wie soll das Ergebnis des 1. Weltkrieges bewertet werden? - Ist „Versailles“ verantwortlich für Faschismus und Holocaust? - Damit auch die Siegermächte England, Frankreich, USA … ? Blendet eine solche Perspektive tendenziell nicht aus, dass es das Deutsche Reich war, das jedenfalls die Hauptverantwortung für die Auslösung des 1. Weltkrieges trägt? - Blendet eine solche Perspektive nicht tendenziell aus, dass schon im wilhelminischen Deutschland sich Sozialdarwinismus, imperialistisches Denken, Antisemitismus, Militarismus … sich zu einem ganz spezifischen Gemisch verdichteten, an das das „Dritte Reich“ nur noch „andocken“ musste?
Umgekehrt erfährt man – abgesehen von einem neben einem Industrierequisit in den „Schützengraben“ eingelassenen Streikplakat – nichts über Widerständigkeiten gegen die „Kriegsmaschine“ (die Problematik einer hier provozierten „Unterhöhlungs“ - Metapher soll hier nicht weiter ausgeführt werden).
Der Anspruch der Ausstellung, die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges über den Zweiten hinaus zu thematisieren wird schlicht nicht eingelöst: Man erfährt nichts darüber, dass es erst diese „Urkatastrophe“ war, die den Aufstieg der den Kalten Krieg und das „kurze“ 20. Jahrhundert bestimmenden Flügelmächte Sowjetunion und USA ermöglicht hat; das der Antikolonialismus in seiner konkreten Ausprägung seit 1918/45 ohne dieses Ereignis schwer vorstellbar ist; ebenso, dass der Erste Weltkrieg seinerseits Bestandteil einer weltweiten Dynamik ist und war, die weiter wirkt und wirken wird solange die Voraussetzung für ihre Wirksamkeit gegeben ist.
Burkhard Jäger