14.2.2020 - Die Wahl des FDP-Fraktionsvorsitzenden Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens am 05 02.2020 wird in die Geschichtsbücher eingehen. Erstmals hat sich ein Politiker mit den Stimmen einer Partei, deren dortiger Fraktionsvorsitzender laut Gerichtsurteil als Faschist bezeichnet werden darf, in das o. a. Amt wählen lassen.
Die Winkelzüge und Manöver im unmittelbaren Vorfeld dieses Vorganges sollen hier nicht mehr referiert werden. - Sie sind mittlerweile allgemein bekannt. - Hier soll gefragt werden: Welche Rahmenbedingungen bzw. Veränderungen in der politisch-gesellschaftlichen Struktur der Bundesrepublik haben ein solches Szenario möglich gemacht? - Welche Perspektiven – nicht zuletzt auch friedenspolitische – ergeben sich daraus?
Tabubrüche wie der hier vorliegende ereignen sich – wie alle Produkte menschlichen Handelns – nicht aus dem „Nichts“ heraus, sondern sind eingebettet in ein Entwicklungsmilieu, das hier in möglichster Kürze skizziert werden soll:
Die Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag bilden in sehr deutlicher Form einen Trend ab, der sich seit 2015 in den Landtagen aller Bundesländer niederschlägt, und seit der letzten Bundestagswahl auch auf Bundesebene: Den scheinbar unaufhaltsamen parlamentarischen Aufstieg einer Partei – der AfD – deren Parteiführung ihrem zunehmend einflussreicher werdenden völkisch- nationalistischen „Flügel“ (ca. 40 % der Parteimitglieder) mit Wohlwollen gegenübersteht. - Diese Fraktion konnte auf dem Bundesparteitag im November in Braunschweig ihre Stellung im Bundesvorstand verstärken (Brandner, Kalbitz, Portschka).
Dieser Trend ist nur logisch. Der Vormarsch der Rechten bis extremen Rechten in der AfD verlief seit der Abwahl Bernd Luckes stetig, und man darf nach dem gelungenen Coup von Erfurt davon ausgehen, dass gegen den „Flügel“ jetzt gar nichts mehr geht.
Für die politische Gesamtverfasstheit der Partei ist charakteristisch, dass die AfD als Ganzes bzw. der „Flügel“ und die“Junge Alternative“ (JA) von Seiten des Bundesverfassungsschutzes zu einem „Prüffall“ bzw. zu „Verdachtsfällen“ erklärt wurden. - Es ist also klar, wohin „die Reise geht“, und ebenso klar ist eine weitere Korrespondenz: Je radikaler die Partei auftritt, desto besser schneidet sie bei Wahlen ab; heißt im Klartext: Sie wird nicht trotz, sondern wegen ihrer immer deutlicher werdenden Entwicklung hin zu Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antiliberalismus gewählt.
Nun kann man einwenden, dass eine solche Gruppierung, die aus einem nach fachwissenschaftlicher Erkenntnis seit Kriegsende immer konstanten rechtsextremen Wählerpotenzial von 15 – 22 % schöpft, eine stabile Demokratie nicht aus den Angeln heben kann.
Erhellend ist allerdings die Frage, warum ein solches Potenzial (das vorher in Nichtwählergruppen oder anderen Parteien gebunden war) jetzt parlamentarisch und politisch zum Tragen kommt. - Und die hier festzustellenden Tatbestände geben Anlass zur Beunruhigung:
Erstens: Die soziologische Basis der Parteien, die man bisher als Volksparteien bezeichnet hat (weil sie verschiedene Schichten der Gesellschaft integrierten) erodiert zunehmend. Es greifen Desintegration, Verunsicherung und die Angst vor dem sozialen und ökonomischen Abstieg. Ängste, die alles andere als unbegründet sind. Marksteine sind hier: Die für viele Ostdeutsche mit Disqualifizierungs- und Deklassierungserfahrungen verbundene Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik und die durch die „Treuhand“ durchgeführten Kahlschläge. Markstein ist ebenso die aus neoliberalem Geist installierte „Agenda 2010“, die in ganz Deutschland einen stabilen Sockel materiellen Elends geschaffen hat.
Zweitens: AfD-Politiker bzw. solche, die ihnen sehr affin sind, sickern in staatliche Strukturen ein und durchsetzen sie:
Der DPolG-Chef Rainer Wendt sollte auf Initiative der sachsen-anhaltinischen CDU Innenstaatssekretär werden. (Bekannt ist seine Hetze gegen „kriminelle Ausländer“ und „linke Chaoten“).
Der frühere JA-Vorsitzende Peterka (mit guten Beziehungen zu Identitären) ist seit 2018 stellvertretender Vorsitzender des parlamentarischen Unterausschusses Europarecht.
Im Tourismusausschuss des Bundestages: Sebastian Münzmeister (er fordert eine „Verabschiedungskultur“ für Geflüchtete).
Vorsitzender der Kinderkommission des Bundestages: Johannes Huber, für den Abtreibung eine „Straftat“ ist.
Vorsitzender des Haushaltsausschusses ebd.: Peter Boehringer (in einer E-Mail von 2016 macht er deutlich: Bei ausbleibendem Erfolg des Kampfes gegen die Merkelsche Asylpolitik sei der Bürgerkrieg unausweichlich).
Vergleichbare Kommentare gibt es vom stellvertretenden Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Diese Liste ist nicht vollständig …
In den Landtagen sind AfD-Politiker in den Präsidien oder Ältestenräten vertreten. - Hier werden sie – ohne irgend eine Notwendigkeit von anderen Parteien mit hineingewählt.
Im kommunalen Bereich sieht es nicht besser aus.
Man darf gespannt sein, wie sich CDU/CSU bzw. FDP auf den verschiedenen Ebenen parlamentarischer Vertretungen verhalten, wenn sich – wie vorauszusehen – ihre parlamentarische Basis weiter verengt, sie auf Mehrheitsbeschaffung aus der AfD-Ecke angewiesen sein werden. Innerhalb der CDU gibt es schon jetzt Anzeichen für ein „Ausfransen“ nach rechts: Die sogenannte „Werteunion“ plädiert für „pragmatisches“ Zusammenarbeiten mit de AfD, um konservative „Rollen rückwärts“ zu ermöglichen.
Es ist einigermaßen wahrscheinlich, dass das weitere Wachstum der AfD zu einem inneren Ausdifferenzierungsprozess innerhalb der CDU führen wird, der sie einem ähnlichen Aderlass unterwerfen würde wie der, den die SPD nach der Verabschiedung der Agenda 2010 bereits hinter sich gebracht hat.
Ein solches Szenario verweist auf die o. a. „Weimar“-Analogie: Ein (außer-)parlamentarisch genügend etablierter völkisch-nationalistischer Block würde wahrscheinlich eine fatale Sogwirkung nach rechts entfalten, die politischen Koordinaten in der rechten Hälfte des politischen Spektrums nach rechts verschieben. -
Sollte es der AfD gelingen, eine solche Entwicklung anzustoßen, hätte dies gravierende Auswirkungen auch auf die Entfaltungsbedingungen friedenspolitischer Initiativen: Die Agitation der AfD gegen eine „überfremdende“ Zuwanderung zielt primär auf die Ängste von Menschen, die sich sozial und ökonomisch vom Abstieg bedroht fühlen. Es wird auf ein innenpolitisches Klima gesetzt, das einen sozialchauvinistisch begründeten Nationalismus fördert. - Die außenpolitischen Implikationen liegen auf der Hand und entsprechen den Konsequenzen, die bei einem ebenso geforderten Austritt aus der europäischen Währungsunion greifen. Die Verstärkung ohnehin nach wie vor vorhandener nationaler Egoismen und Rivalitäten um die währungspolitische Komponente.
Innenpolitisch soll eine solche tendenziell aggressive Frontstellung nach außen abgesichert werden durch zwangsintegrative Maßnahmen gegen religiöse und ethnische Minderheiten.
Die Erhöhung des Konfliktpegels wäre hier ebenso vorprogrammiert wie bei den anvisierten Rücknahmen von Reformen in der Geschlechter- und Familienpolitik und würde die Legitimationsgrundlage für weitere Repressionen liefern.
Eine solche Entwicklung muss verhindert werden!
Burkhard Jäger