DISKUSSION aktuell:
30.12.2021 (Friedenszentrum) - von Burkhard Jäger
Ukraine - eine Krise in Permanenz?
Entwicklungsdynamiken erschließen sich in der Regel dadurch, dass man schlaglichtartig zwei (oder mehr) Daten miteinander vergleicht und sich die einschlägigen Veränderungen auf Landkarten, in Statistiken, Fotos etc. pp. miteinander vergleicht. - Manche Zeitgenoss*innen, die sich z. B. im Jahre 1992 in Europa (und auf dem Globus) umsahen, waren mit dem US-amerikanischen Autor Francis Fukuyama der Meinung, nun sei in der Tat das "Ende der Geschichte" (so der Titel eines seiner Bücher) gekommen: Der totalitäre Widerpart (Sowjetunion und ihre Bündnispartner) sei von der Bühne der Weltpolitik verschwunden, die Welt auf dem Wege zu einer ewigen Harmonie aus Demokratie und (kapitalistischer) Marktwirtschaft; der Anbruch eines friedlichen weltweiten Wettbewerbs der Völker und Staaten, von Freiheit, Gleichheit und ständig wachsendem Wohlstand stehe unmittelbar bevor, der Lauf der Geschichte speise sich nicht mehr aus einer Dynamik von Widersprüchen.
Wer sich heute, knapp 30 Jahre später, in der Welt umsieht, sieht allerdings einen von Libyen über Syrien, den Irak, Afghanistan, Jemen, ... reichenden breiten Gürtel verbrannter Erde, von Bürgerkriegen erschütterter "failed states", Berge von Toten, Verstümmelter, Verhungernder .... und dadurch ausgelöster Migrationswellen.
Wer sich heute in Europa umsieht, einen Blick in den Geschichtsatlas wirft, eine fünfteilige Kartenfolge von 1999 bis 2020 miteinander vergleicht, der/dem fällt auf, dass eine kompakte blaue Fläche, ausgehend von einer in Europa durch Norwegen, Deutschland und Italien nach Osten begrenzten Linie im Norden die baltischen Staaten "verschluckt" hat, kurz vor St. Petersburg stehend, ebenso Ostmitteleuropa bis zu den Ostgrenzen Polens und Rumäniens. - Die "Farbe Blau" steht hier natürlich für die NATO. - Als grün eingefärbt erscheinen hier die Ukraine und Georgien (Staaten, denen eine Beitrittsperspektive eröffnet werden soll).
Animation: Nato-Osterweiterung Bearbeitung basierend auf:
By User: Arz - Seperated part from File:Map of NATO chronological.gif, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15583952 und folgende
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? - Was haben die fatalen Folgen des "Krieges gegen den Terror" mit den Beitrittswünschen ostmitteleuropäischer Staaten zur NATO gemein? - Was der sich versteifende russische Widerstand gegen eine Westbindung der Ukraine mit dem Sieg der Taliban in Afghanistan, dem Wiedererstarken des IS, dem Konflikt USA/Iran usw. usf. ? - Auf den ersten Blick nicht allzuviel; auf den zweiten dafür umso mehr. Die nachhaltige Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens ist ebenso eine Folge des US-Ausgreifens in diesen Raum (Afghanistan 2001, Irak 2003 als "Initialzündungen", legitimiert als Reaktion auf "9/11", faktisch der Versuch, sich ein dauerhaftes standing in dieser geostrategisch wichtigen Region zu verschaffen) wie das Ausgreifen in den ostmitteleuropäischen Raum mit dem Dreh- und Angelpunkt Ukraine die dortige Konfliktdynamik ausgelöst hat.
Dieses Land hat in den Kalkulationen der expansionsorientierten Teile des Blocks an der Macht in den USA nicht umsonst einen zentralen Stellenwert. Einer ihrer führenden Theoretiker (Zbigniew Brzesinski) hat bereits 1997 ("The Grand Chessboard") festgestellt:
"Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein europäisches Imperium zu sein. ... Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es aber wieder eine Imperialmacht." (Zitiert nach: "Tagesspiegel", 03. 08. 2015; sicher keine Zeitung, die in Verdacht steht, antiamerikanisch zu sein). - Auch wenn Brzesinski von einer Aufnahme des Landes in die NATO ausdrücklich abriet (2014), ist die dauerhafte Herauslösung aus der russischen Einflusssphäre für ihn jedoch ein essential. - Mit dieser Haltung ist B. ein authentischer Vertreter der derzeitig gültigen außenpolitischen Doktrin der USA, die ein Wiedererstarken Russlands um jeden Preis verhindern wollen. In diesen Zusammenhang ist die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien einzuordnen, der Konflikt zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Provinzen, die Unterstützung von "Farbrevolutuonären" durch westliche Stiftungen ...
Hier gibt es eine Interessenidentität zwischen der EU und den USA; dies würde auch die auffällige zeitliche Aufeinanderfolge zwischen der Ablehnung des EU-Assoziierungsabkommens Ukraine/EU durch die damalige Janukowytsch-Regierung und dem kurz darauf ausbrechenden und in Gewalttätigkeit endenden "Euromaidan" erklären. Ein Ereignis, durch das schließlich eine (auch nach Einschätzung von OSZE-Beobachtern) demokratisch gewählte Regierung weggeputscht wurde; mit den bis heute zu beobachtenden Folgen (Annexion der Krim, die Sezession von Teilen der Ostukraine ...)
Jede Berichterstattung, die diese Rahmenbedingungen und Voraussetzungen vernachlässigt, wirkt manipulativ, da sie den geostrategischen Gesamtzusammenhang ausblendet; und solange der hier skizzierte Grundkonflikt nicht für alle Seiten zufriedenstellend gelöst wird (mit Blick auf die bis dato antagonistischen Positionen eine "Herkulesaufgabe"!), ist hier keine Entspannung zu erwarten; bestenfalls ein brüchiger "Waffenstillstand".
Was ist zu tun? - Was kann - vor allen Dingen - die Friedensbewegung tun? - Die Friedensbewegung allein wird kaum in der Lage sein, eine nennenswerte Gegenmacht gegen die Propagandisten von Expansion und Konflikt zu mobilisieren. - Sie kann nur im Verein mit allen Kräften, die sich Frieden, gesellschaftlichen Fortschritt und das Aufbrechen verkrusteter Strukturen auf "ihre Fahnen geschrieben" haben, mittelfristig Erfolg haben. Sie sollte hinarbeiten auf die Herstellung einer tragfähigen (zunächst europäischen) Sicherheitsarchitektur, die allen Interessen Rechnung trägt, auf die Beendigung einer "Endlosschleife" aus Polemik und Sanktionen hinwirken. - Sie sollte hinweisen auf bedenkliche Symptome einer sich beschleunigenden Aufrüstungsdynamik (u. a. 2 %-Forderung), auf geheime Übungen der NATO-Luftwaffen zum Einsatz von Atomwaffen, darauf, dass das Pentagon plant, eine neue, mit landgestützten Mittelstreckenraketen ausgestattete Einheit in Europa zu stationieren (MDTF), ...
Um den Bogen zur Eingangsfrage zurück zu spannen: Es ist nach Lage der Dinge wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass von ihrer Lösung der Frieden in Europa abhängt.
Burkhard Jäger
Animation: Nato-Osterweiterung Bearbeitung basierend auf:
By User:Arz - Seperated part from File:Map of NATO chronological.gif, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15583952 und folgende
»» s. auch Veranstaltung "Russland und der Westen – Eskalation ohne Ausweg?"