DISKUSSION aktuell:
27.2.2022 (Friedenszentrum)  - von Burkhard Jäger

Verlöschen die Lichter in Europa?

 

Vor etwas mehr als 100 Jahren prophezeite der englische Außenminister Edward Grey: "Jetzt gehen die Lichter aus in Europa und niemand von den Lebenden wird sie mehr leuchten sehen." - Anlass war der Kriegseintritt Englands in den 1. Weltkrieg, nachdem deutsche Truppen, Belgiens Neutralität verletzend, ihre Kriegswalze gegen Frankreich in Bewegung gestzt hatten.

Mit historischen Analogien ist es immer so eine Sache; und "Geschichte" wiederholt sich nie schablonenhaft. Aber so manche Zeitgenoss*innen werden sich in diesen Stunden an diesen geschichtlichen Augenblick erinnert fühlen:



Ein deutscher Kanzler tritt vor das Parlament und verkündet, teilweise unter den "standing ovations" der großen Mehrheit, ein Aufrüstungsprogramm, das ihm vor noch nicht allzu langer Zeit den Ruf eines Erfüllungsgehilfens der Rüstungsindustrie eingebracht hätte. - Heißt konkret:

Einmalig werden 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereit gestellt. - Die 2% - Vorgabe der NATO wird jetzt ohne Wenn und Aber von Deutschland erfüllt. (Olaf Scholz: "Wir werden von nun an - Jahr für Jahr - mehr als 2% des Bruttoinlandsproduktes in unsere Verteidigung investieren."). - Es wird ein "Sondervermögen Bundeswehr" eingerichtet. -

Aus deutschen Waffenschmieden stammende Produkte dürfen jetzt in Kriegsgebiete verbracht werden (Panzerfäuste für die Ukraine). - Die Endverbleibsgarantie wird damit aufgehoben.

Scholz selbst, ganz vom Ausnahmecharakter des Augenblicks erfüllt, ruft aus: "Wir erleben eine Zeitenwende!"

Gleichzeitig vernimmt man drohende Töne aus Moskau.

Die militärische Intervention Russlands in der Ukraine markiert, soviel kann man jetzt schon sagen, einen Wendepunkt nicht nur in der europäischen Geschichte. Es ist allerdings kein Wendepunkt, der - in der jüngeren Geschichte - von neuem Gewalt und Krieg nach Europa gebracht hätte: Die offene Gewalt gegen Zivilisten, militärische Auseinandersetzungen, ... haben in Europa schon lange vor den derzeitigen Ereignissen in der Ukraine begonnen, auch schon lange vor dem sogenannten "Euromaidan" 2014, in dessen Verlauf eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und eine dezidiert westlich orientierte Regierung sich etablieren konnte.

Gewalt und Krieg begannen bereits unmittelbar nach dem Ende des "Kalten Krieges", der Europa zwar durch eine klar definierte Demarkationslinie in zwei Teile aufgeteilt hatte, der aber - bei aller Bedrohung durch die beidseitig angehäuften Nuklearwaffenarsenale - durch eine klare Abgrenzung territorial definierter Einflusssphären gekennzeichnet war, in dieser Hinsicht Stabilität und Frieden für Europa garantierte. (Die Folgen einer Überschreitung von "Grenzen" waren berechenbar). - Dass mit dem "Sieg des Westens" wieder Gewalt und Krieg zwischen Staaten und Völkern in Europa einzog, ist keine polemische Rhetorik sondern eine belegbare Tatsache: Zunächst durch die Fragmentierung Jugoslawiens, dessen ökonomisch fortgeschrittenere Teile (Slowenien, Kroatien ...) sich von Serbien emanzipierten, dann durch den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina (Massaker von Srebrenica u. a.), schließlich durch die Sezession des Kosovo (die - anders als die der russisch dominierten Teile der Ostukraine) vom Westen durch einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien befördert wurde. Zu nennen sind ebenso: Der Krieg um Transnistrien bis Anfang der 90er Jahre, der Tschetschenienkrieg, der Krieg zwischen Russland und Georgien 2008, sämtliche Ereignisse im Gefolge des Euromaidan 2014 (Annexion der Krim, Sezession der Donbassgebiete).

Unter friedenspolitischen Gesichtspunkten ist seit 1989 in Europa eine gefährliche Situation entstanden, die in ihrer Fragilität an die instabilen Verhältnisse im Gefolge des 1. Weltkrieges in Europa erinnert: War damals aus der Konkursmasse der russischen, deutschen und österreichisch-ungarischen Monarchien eine Vielzahl kleiner Staaten entstanden, die territoriale Begehrlichkeiten der Nachbarn weckte und ein Ursachenpotenzial für den 2. Weltkrieg bildeten, so haben wir eine ähnliche Konstellation nach dem Ende des Kalten Krieges: Die aus der Konkursmasse der Sowjetunion entstandenen Staaten sehen sich einerseits als Objekte einer russischen Reconquista, andererseits liegen sie im Kraftfeld eines von der NATO bzw. der EU betriebenen roll backs, der vollzieht, was u.a. John Foster Dulles, Eisenhower in den 50er Jahren anstrebten. - Sie liegen im Spannungsfeld imperialer Ansprüche und sind "Schlachtfeld" ebendieser Ansprüche.

Den strategischen Stellenwert der Ukraine haben sowohl die russische Staatsführung (es ist irreführend, hier immer auf "Putin" hin zu personalisieren) als auch die NATO-Führungsmacht USA erkannt. Vom Ausgang der "Schlacht um die Ukraine" hängt es aus russischer Perspektive ab, ob Russland in Europa und weltweit wieder eine maßgebliche Stellung erlangen kann oder in einer untergeordneten Stellung verbleibt. Das entscheidende Kriterium: Kiew darf unter keinen Umständen dem Einflussbereich der NATO einverleibt werden. Dafür wird Moskau buchstäblich alles in die Waagschale werfen!

Gleichzeitig sehen sich die USA mit der Situation konfrontiert, dass sie eine Macht sind, die ihren Zenit überschritten hat, in absehbarer Zeit von der VR China in ökonomischer, globalpolitischer und damit auch militärischer Hinsicht als weltweite Führungsmacht abgelöst wird; eine Macht, deren sozioökonomisches und damit gesellschaftliches Ordnungsmodell zunehmend an Attraktivität verliert; eine Macht, die in Afghanistan ihren zweiten Krieg nach Vietnam verloren hat; und die historische Erfahrung zeigt: Eine Macht, die nicht bereit ist, ihren tendenziellen Machtverlust zu akzeptieren, versucht dies in aller Regel durch eine gesteigerte Aggressivität nach außen zu kompensieren.

Dies realisierte sich in der jüngsten Vergangenheit in der NATO-Osterweiterung, durch völkerrechtswidrige Kriege auf dem Balkan und im Nahen und Mittleren Osten. ... Konsequenterweise machten die USA die wichtigsten Rüstungskontrollvereinbarungen aus der Zeit des Kalten Krieges zur Makulatur: Den INF-Vertrag, den KSE-Vertrag, den ABM-Vetrag.

Das, womit wir uns heute konfrontiert sehen, ist lediglich die Momentaufnahme eines Prozesses, der seine Dynamik aus den o. a. Voraussetzungen bezieht.

Für die NATO-Führungsmacht USA ist es essenziell, die europäischen Staaten politisch, ökonomisch ... auf das Engste an sich zu binden. - Die nun in Kraft gesetzten Sanktionen gegen Russland kommen diesem Interesse entgegen: Sie werden auch die europäischen Staaten massiv schwächen, ihre Abhängigkeit von den USA verstärken, aber auch innenpolitisch Verteilungskämpfe verschärfen und die Statik der gesellschaftlichen Beziehungen ins Rutschen bringen.

Setzt sich Russland in der Ukraine durch (was zu erwarten ist), wird diese in das russische Kraftfeld integriert, sieht sich Moskau andererseits an seiner Westflanke aufgerüsteten NATO-Staaten gegenüber, ökonomisch von den Sanktionen geschwächt, bleibt die Ukraine, von den Westmächten destabilisiert, eine "schwärende" Wunde, dann ist die Bühne für den nächsten - und noch gefährlicheren Konflikt bereitet.

Damit es nicht soweit kommt, muss sich der Friedenswille der übergroßen Mehrheit nicht nicht nur demokratisch artikulieren, sondern auch durchsetzen.


Burkhard Jäger