Bericht des Vortrags von Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach am 16.11.2017 in der VHS in der Reihe "Wege zu einer Kultur des Friedens".
Die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens kommen nicht voran. Deutschland und weitere Mitgliedsländer sind durch Parlamentswahlen oder Koalitionsbildungen gelähmt. Der Umgang mit den Geflüchteten entzündet einen endlosen Streit. Was ist los mit dir, Europa?
Zur gleichen Zeit kündigt Emmanuel Macron eine Neugründung der EU an, vor allem mehr Ausgaben für die Verteidigung. Jean-Claude Juncker will den Euro auf alle Mitgliedsländer ausweiten und die zentralen Einrichtungen festigen. In Deutschland wünscht man sich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, ein Kern-Europa und kleinere Länder am Rand. Alle Nationen - ob im Westen, Süden, Norden oder Osten - wollen eine andere EU. Aber welche?
Resümee des Referenten
In einem Vakuum von Brexit, Parlamentswahlen, Regierungsfindung, gefühlte äußere Bedrohung
(1) Europäische Träume
• Jean-Claude-Junckers Ruck-Rede
- ein Plädoyer für die Union als Ganzes; der Binnenmarkt und die Eurozone werden auf die gesamte EU ausgeweitet; Finanztransfers gleichen die unterschiedlichen Lebenslagen in den Mitgliedsländern einander an; gemeinsame Sozialstandards; gegen das Demokratiedefizit der EU eine Reform der Institutionen, Bündelung der EU-Entscheidungsträger und Konzentration ihrer Kompetenzen; Mehrheitsentscheidungen; ein Präsident für Rat und Kommission; ein Wirtschafts- und Finanzminister als EU-Kommissar und Chef der Euro-Gruppe.
• Emmanuel Macron
- Neugründung der EU; länderübergreifende Wahl der Abgeordneten des EU-Parlaments; zentrale EU-Einrichtungen und Verfahren: Verteidigungsbudget und gemeinsame Eingreiftruppe; Staatsanwaltschaft, Geheimdienstakademie, Katastrophenschutz; Asylbehörde, Einwanderungsgesetz, Grenzpolizei; EU-Energiemarkt, CO2-Zertifikatehandel; Unternehmensteuer, Finanztransaktionssteuer; unterschiedliche Integrationstiefen: Eurozone, steuerfinanziertes Budget, Finanzminister; vollständige deutsch-französische Marktintegration.
• Wolfgang Schäuble
- Vertiefung der Eurozone; Festigung des ESM, Ausweitung der Befugnisse und tendenzielle Überführung in einen EU-Währungsfonds unter strengen Auflagen; strikte Einhaltung der Stabilitätsregeln gegenüber den Euroländern; Insolvenzordnung für überschuldete Staaten unter Beteiligung privater Gläubiger; Kritik der deutschen Finanzverwaltung an Juncker, Entmachtung der Kommission, weil diese staatliche Überschuldung toleriert und die Stabilitätsregeln nicht dem EU-Primärrecht zuordnet; Vorstellungen einer EU verschiedener Geschwindigkeiten.
(2) Europäischer Alltag
• Das marktradikale Erbe: Wetterwechsel zu Beginn der 1980er Jahre: Drei neue Theoriemuster: Der Markt als Grundform menschlicher Beziehungen, der Vorrang der Geldsphäre vor der Realwirtschaft, der Vorrang privater Güter vor öffentlichen Gütern.
Binnenmarkt:
Vier große Freiheiten der Waren, der Dienst, der Arbeitskräfte und des Kapitals. Zunächst Industriewaren, dann auch die Dienstleistungen (Bolkestein-Richtlinie), Gesundheit, Pflege, Soziale Leistungen, Verkehrsleistungen.
Währungsunion:
Nur zwei Stellgrößen: Stabilisierung des Güterpreisniveaus, Deckelung der öffentlichen Haushalte. Einheitliches Zinsniveau (nominal). Regionale Ungleichgewichte.
Von der Bankenkrise zur Verschuldungskrise peripherer Staaten:
Rasante Aufwärtsbewegung der Vermögenspreise, Platzen der Blase, Rettung der Banken durch die Staaten, hohe Staatsverschuldung, spekulative Attacken gegen die schwächsten hoch verschuldeten Staaten der Eurozone. Asymmetrisches Krisenmanagement; .gegen den Teufelskreis ein Befreiungsschlag durch die EZB.
• Risse an einer hohen Mauer:
„Europa ist keine Sozialunion“ (Angela Merkel) Hat sie Recht? Im EU-Vertrag: Solidarität unter den Mitgliedsländern, Angleichung der unterschiedlichen Lebensverhältnisse der Regionen und Staaten: derzeit ins Gegenteil verkehrt - wachsende Polarisierung innerhalb und zwischen den Mitgliedsländern; entregelte Arbeitsverhältnisse, Abbau solidarischer Sicherungssysteme, Armut.
Prioritäten: Der „lange Gang nach Westen“ hat in den ursprünglichen EU-Ländern Lebensstile und Orientierungen verändert; mit den EU-Erweiterungen nach Süden (ehemalige Diktaturen), nach Norden (UK und skandinavische Länder) und nach Mittelosteuropa (mit dem Zusammenbruch der UdSSR) ist das Einfühlungsvermögen in die anderen Erwartungen der neuen Völker nicht gewachsen.
Rivalitäten: Angeblich leistungsfähige Nationen im Norden suchen „Südländer“ und Mittelosteuropäer zu disziplinieren, eine deutsch-französische Achse oder die Bundesrepublik spielen sich als Quasi-Hegemon der EU auf, jeweils auf der Suche nach zufälligen Partnern; Die von den Banken etikettierte „staatliche Verschuldungskrise“ in der Eurozone durch die angeblich leistungsstarken Nordländer zu bewältigen, insbesondere mit Hilfe der deutschen Sparpolitik (schwarze Null) die angeblich leistungsschwachen Süd- oder rmittelost-europäischen Länder zu steuern bzw. zu disziplinieren, provoziert unkontrollierte Gegenreaktionen. Die im Ausland erwartete und auch empfundene starke Position Deutschlands in Europa mag aus ökonomischer Sicht berechtigt sein, politisch wird diese Verantwortung nicht wahrgenommen. Alleingänge erzeugen Unwillen und Widerstand bei kleineren Partnern; Anti-Koalitionen entstehen - Südstaaten (Mittelmeerländer „club Med“), Visegrádgruppe, Westbalkanstaaten unter Regie Österreichs, Drei Meere-Koalition.
• Blutige Grenzen
Verkehrte Weichenstellung: Dublin III-Verordnung ist eine unsolidarische Belastung der Südstaaten, macht Deutschland grundsätzlich flüchtlingsfrei, zudem kann das ursprüngliche Asylrecht denen verweigert werden, wenn Geflüchtete aus einem Mitgliedsland, sicherem Drittstaat, Herkunftsland kommen. Vertikales Schisma: Bürgerschaftliche Initiativen Regierende: Abschreckung, „Asylmissbrauch“, abgesenkte Sozialleistungen, Afghanistan ist sicher, Wohnsitzauflagen, 1 €-Jobs.
Was ist schief gelaufen: Einsame Entscheidung, Ahnungslos gegenüber Dublin III, Ressortkompetenz, Teufelskreis: Fremdenfeindlichkeit, schärfere Gesetze, Reaktion auf Gewalt. Falsche Erwartung an die Solidarität der Mitgliedsländer nach einer Verletzung der Solidarität.
Europas Mauer: „Mare Monstrum“ - Diese Wirtschaft tötet“ (Franziskus), 5000 Ertrunkene im Mittelmeer 2016, Konferenz der Westbalkanstaaten in Wien 2016, Abstimmung auf Obergrenzen. Migrationsgipfel 2016 in Wien, Abriegelung der Grenzen. „Balkanroute für immer geschlossen“. Neue Migrationspolitik als Grenzbefestigung, Abkommen mit Herkunftsländern, Abfanglager, Privat-öffentliche Agenturen der Grenzsicherung, Verlagern der Grenze in die afrikanische Wüste, Ächtung und Kriminalisierung ziviler Initiativen der Rettung aus Seenot. Flüchtlingsgipfel in Valletta und Paris, Türkei-Deal: Abwehr Geflüchteter gegen Eurozahlung, Migrationspartnerschaften mit Libyen, mit afrikanischen Staaten südlich der Sahara.
(3) Die Europäische Union - eine Doppeldemokratie
• Schlamassel der Verfahren und Institutionen:
Zwei Verfahren - die „Gemeinschaftsmethode“ (Kommission, Parlament, Ministerrat) und die „Unionsmethode“ (Rat der EU). - Drei/vier zentrale Institutionen: der Europäische Rat, die Träger der ordentlichen Gesetzgebung, die Staaten der Eurozone, die völkerrechtliche Verträge schließen, und die EZB.
• Fragile Demokratie:
Die Institutionen streiten um Entscheidungskompetenzen, wählen die Verfahren beliebig aus. Dominanz von Binnenmarkt und Finanzsphäre, Politik in Geiselhaft der Konzerne und Lobbyisten, statt Richtlinienkompetenz Ressortmanagement, Wahlenthaltung der unteren Schichten.
• Zwei Souveränitäten:
die EU-Bürgerinnen und Bürger, die ein nationales Parlament wählen. Die souveränen Nationalstaaten geben begrenzte Teile und Kompetenzen an ein supranationales Rechtssubjekt ab. Die EU ist ein Staatenverbund, eine freie Republik souveräner Staaten, eine Doppeldemokratie - Verfassung: souveräne Parlamente, Exekutive, Länderkammer, Gerichtshof.
• Charme des Nationalen:
Die primäre Staatlichkeit liegt bei den Nationalstaaten, Garanten des Rechts, der universalen Menschenrechte, Recht auf eigene Identität, deshalb Respekt vor der Geographie, möglichen Gravitationsfeldern, Gruppierungen der Nationen der EU.
• Gewicht der Regionen:
Emotionale Bindung an überschaubare Gemeinschaften, Landschaften, Geschichte, Kultur; Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studenten. Elementare Ressource zivilgesellschaftlicher Initiativen und Bewegungen - gegen staatliche Hysterie der Bedrohung und Verteidigung, Aufrüstung und Sicherheitsängste, die den Einsatz für den Frieden verdrängt.
s. auch Beitrag von Friedhelm Hengsbach am 24.3.2017 in der Frankfurter Rundschau "Europa ist eine Sozialunion - Zum Jubiläum darf die EU nicht nur jubeln. Sie muss sich fragen, wie ein Neustart gelingen kann."