-- Ergänzung zur Ausstellung : Video-Interview als Lesetext. --


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Ich denke, jede gute Tat stiftet Frieden. Wenn ich im Bus nett zu der Person neben mir bin und Platz mache, ist das für mich ein Beitrag zum Frieden. Auch jede freundliche Geste, die vom Herzen kommt, und jede Handlung, bei der ich ganz ich selbst bin, stiftet Frieden. Denn das erlaubt es auch anderen Menschen, sie selbst zu sein. Jede mutige Tat an Orten, wo es riskant ist mutig zu sein, ist ein Beitrag zum Frieden."

Ada Hakobyan wuchs in Armenien auf. Als Kind erlebte sie in den 1990er Jahren den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach. Sie kam als Studentin mit einem Stipendium nach Deutschland und forschte über die Ursachen des Krieges. Später arbeitete sie in Friedensprojekten in Liberia, Sierra Leone, dem Sudan und dem Südsudan. Seit 2019 arbeitet sie im Ukraine-Team von Pro Peace und unterstützt Friedens- und Nachbarschaftsinitiativen sowie Projekte, die mithilfe von künstlerischen Ansätzen zur Traumabewältigung beitragen.

 

"Mein Name ist Ada Hakobyan. Ich bin 41 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Kindern. Und ja, ich bin in Armenien geboren und aufgewachsen und habe meine Kindheit und Jugend dort verbracht. Und ich denke, das hat mein Leben, meinen Beruf und mein Engagement geprägt. Wie ich die Welt sehe, ist davon geprägt, wie ich meine Kindheit in Armenien erlebt habe."



Wie hat der Krieg in Armenien und Aserbaidschan deine Kindheit geprägt??


"Ich war sechs Jahre alt, als der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien begann. Es ging um die Frage, wem die Region Nagorny Karabach gehört. Eine kurze Erklärung, worum es geht: Während der Sowjetzeit wurde beschlossen, dass die Region namens Nagorny Karabach, die von Armenier*innen bewohnt war, zu Aserbaidschan gehören sollte. Diese Lösung gefiel den Menschen in Armenien nicht. Es gab viele Versuche, das Gebiet zurückzubekommen. Aber während der Sowjetzeit war es nicht möglich, die Ansprüche militärisch durchzusetzen.

Mit dem Ende der Sowjetunion verlor auch das System, das alles zusammenhielt und den Status quo bewahrte, an Einfluss. Das war die Zeit, als der Krieg ausbrach und eskalierte. Ich weiß nicht mehr, wie ich erfahren habe, dass es einen Krieg gab. Vielleicht habe ich es im Fernsehen gesehen. Es ist ja so, dass Kinder sehr neugierig sind. Sie hören genau, was die Eltern reden. Wir denken: Ach, die Kinder spielen doch nur! Aber sie nehmen alles auf. Ich kenne das von meinen Kindern. Und wahrscheinlich habe ich die Gespräche der Erwachsenen mitbekommen.

Eine Sache hat mir besonders deutlich vor Augen geführt, dass der Krieg wirklich passierte und was das bedeutete: Wir wohnten in einer Wohnung im Erdgeschoss an der Hauptstraße. Ich komme aus einer kleinen Stadt, dort gibt es diese eine große Straße. Von unseren Fenstern aus konnten wir die Straße sehen. Und fast jeden Tag gab es Trauermärsche für die getöteten Soldaten. Sie wurden zur Beerdigung gebracht und ihre Särge wurden zu Fuß durch die Straßen getragen. Ich konnte alles sehen. So ich verstand ich, dass Menschen starben. Unser Leben war nicht nur vom Krieg selbst geprägt. Das gesamte politische und wirtschaftliche System war im Umbruch. Es gab eine Wirtschaftskrise. Alles veränderte sich. Die Arbeitslosigkeit nahm zu. Es gab keine wirkliche soziale Infrastruktur. Wir hatten jahrelang keine Heizung, nur sehr wenig Strom, und es fehlte an Lebensmitteln.

Ich glaube, das hat mich so geprägt, dass ich viele Dinge nicht als selbstverständlich wahrnehme. Ich weiß es zum Beispiel sehr zu schätzen, wenn es Heizung und Strom gibt und man sich aussuchen kann, was man isst. Das ist viel wert.

 

Waren es diese Kindheitserfahrungen; die dich dazu bewegt haben im Studium zu Konflikten zu forschen?

"Ja, ich denke, meine Neugier tiefer zu blicken, Konflikte zu verstehen und zu erforschen, hat mit meinen Erfahrungen zu tun: Während des Krieges in meinem Land wurde nicht viel darüber gesprochen. Es war immer da – dieses Gefühl, dass da etwas vor sich geht. Wir wussten, was los war. Aber es gab keine Gesprächskultur. Zum Beispiel haben die Eltern den Kindern nicht erklärt, was vor sich geht. Es wurde irgendwie ein Geheimnis daraus gemacht. Es hieß: „Wir sind im Recht!“ „Wir verteidigen unser Land und unser Volk!“ Aber diese Erklärung war mir zu oberflächlich. Das hat mir nicht gereicht. Als ich dann erwachsen wurde und die Möglichkeit dazu hatte, merkte ich, dass ich die Ursachen verstehen wollte. Ich wollte untersuchen, warum es passiert war und welche Alternativen es gegeben hätte. Denn es ja kann nicht sein, dass es nur diesen einen Weg gibt, nämlich zu kämpfen und in den Krieg zu ziehen. Das war das Rätsel, was ich erforschen wollte."

 

In deiner Masterarbeit hast du gesellschaftliche Traumata erforscht. Dabei hast du auch untersucht wie Täter-Opfer-Erzählungen zur Eskalation der Gewalt beigetragen haben. Welche Reaktionen hast du darauf erhalten?

"Was hat uns dazu gebracht, hinzugehen und einander zu töten? Denn wie in vielen Konflikten waren wir ja Nachbar*innen und sind einander täglich begegnet. Und eines Tages steht man plötzlich auf und fängt an zu kämpfen und einander zu töten. Was treibt uns in dieses Extrem? Das waren also die Fragen, denen ich in meinem Masterstudium in Deutschland nachgehen wollte. Ich schrieb meine Abschlussarbeit über die psychologischen und politischen Kriegsursachen, am Beispiel des Konflikts um Nagorny Karabach. Ich wollte nicht nur diesen Konflikt verstehen, sondern vor allem die psychologischen und politischen Faktoren, die uns in den Krieg treiben. Das habe ich anhand des Beispiels von Nagorny Karabach untersucht, da ich zuerst meinen Krieg und meine Wunden erforschen wollte. 2006 hatte ich die Gelegenheit, meine Masterarbeit auf einer großen Konferenz in Trier vorzustellen. Im Publikum saßen Studierende und Forschende sowohl aus Armenien als auch aus Aserbaidschan. Und die Reaktionen waren nicht sehr positiv.

Ich wurde sogar bedroht und als Verräterin bezeichnet. Sie sagten, ich würde Armenien schaden und ich sei keine echte Armenierin. Ich solle nie wieder nach Armenien zurückkehren, weil ich meine Masterarbeit in Deutschland geschrieben hatte. Das war wirklich eine dramatische Erfahrung für mich. Ich dachte: „Aber eigentlich helfe ich uns doch zu verstehen,“ „was passiert ist.“ Ich hatte versucht, eine neue Sichtweise einzubringen. Wir sind doch Wissenschaftler*innen. Wir sollten nicht einfach nachplappern, was die Politik sagt, sondern forschen und hinterfragen. Das würde uns helfen, die Lösungen aus einer größeren Perspektive zu betrachten und nicht aus einer sehr engstirnigen. Aber das wurde eben nicht gut angenommen. Das war sehr schmerzhaft für mich. Ich habe begriffen, dass es schon als Verrat gilt, wenn man nur einen kleinen Schritt von der offiziellen politischen Haltung abweicht. Es gibt kein breites Spektrum an Meinungen. Und das ist sehr einschränkend."

 

Seit 2019 arbeitest du im Ukraine-Team des forumZFD. Was sind deine Aufgaben?

"Seit 2019 bin ich Projektmanagerin beim Forum Ziviler Friedensdienst in Odessa in der Ukraine. Ich unterstütze die dortigen Partnerorganisationen. Seit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 2022 wurden wir evakuiert. Seitdem arbeite ich von Deutschland aus. Wir haben in dieser Zeit sogar neue Partner gewinnen können. Wir versuchen, sichere Räume zu schaffen, wo Menschen in all ihrer Vielfalt akzeptiert werden können. Wo es nicht eine einzige Wahrheit gibt, sondern wo die vielfältigen Realitäten der Menschen akzeptiert werden. Denn wir alle tragen unser eigenes Päckchen, haben eigene Wunden und Erfahrungen. Und wir können sehr unterschiedlicher Meinung sein. Dann geht es nicht darum, andere Meinungen zu bekämpfen, sondern zuzuhören und zu verstehen, woher die Sichtweise meines Gegenübers kommt. Und wenn ich mich in mein Gegenüber einfühle und seine Geschichte, seine Wahrheit verstehe, anstatt sie zu bekämpfen – dann wird es möglich, dass wir im selben Raum leben. Ich habe verschiedene Partnerorganisationen dabei unterstützt, Räume zu schaffen, in denen sie Vertrauen aufbauen und über schwierige gesellschaftliche Themen sprechen können. Das sind zum Beispiel Organisationen, die mit kreativen Methoden wie Kunst und Theater arbeiten. Manche arbeiten auch in der Nachbarschaft oder mit älteren Menschen.

Ein Bereich, in dem wir arbeiten, ist das Playback-Theater. Das ist eine Form des Improvisationstheaters. Dabei wird dem Publikum kein fertiges Stück präsentiert, sondern das Publikum ist selbst Teil der Aufführung! Denn die Schauspieler*innen spielen die Geschichten der Menschen aus dem Publikum. Die Leute können also kommen und ihre Geschichte erzählen. Jede Aufführung hat ein Thema. Wir wählen Themen aus, die für die Gesellschaft wichtig sind, die hochkochen und zu denen es Redebedarf gibt. Es hat eine heilende Wirkung, die eigene Geschichte zu erzählen, denn dann trägt man die Last nicht alleine. Man teilt den Schmerz, die Freude, den Zwiespalt, die Konflikte. All die Gefühle, die in der Geschichte stecken. Das hilft auch anderen bei der Heilung. Denn deine Geschichte wird zur Geschichte aller. Und viele Leute sagen: „Das kann ich nachempfinden!“ „Das ist mir auch passiert! Ich empfinde Mitgefühl!“

Sogar Menschen, die eine andere Perspektive haben, können dann nachvollziehen: „Wenn die Person in dieser Situation war, hat sie das erlebt!“ Und Geschichten zu teilen, schafft Gemeinschaft und Zusammenhalt. Deshalb fördern wir diese Art von Theater. Besonders jetzt im Krieg kommen viele Gefühle und Geschichten hoch. Und wenn wir den Menschen die Möglichkeit geben, ihre Geschichten zu erzählen, trägt das zur gemeinsamen Heilung bei.

 

Was bedeutet Friedensarbeit für dich?


Jemand von einer Partnerorganisation hat mich vor Kurzem gefragt: „Was meinst du mit ‚Friedenarbeit‘?“ „Meinst du damit Frieden zwischen uns und Putin?“ „Oder etwas anderes?“ Ich antwortete: „Für mich bedeutet es etwas anderes.“ Wir arbeiten nicht auf der politischen Ebene im Bereich der Verhandlungen. Das können wir nicht beeinflussen. Aber für mich bedeutet Frieden, dass wir Beziehungen zueinander und innerhalb der Gesellschaft aufbauen. Es bedeutet, dass es keine Diskriminierung gibt und dass alle Menschen sich frei fühlen und sie selbst sein können. Dass wir keine Angst haben, wir selbst zu sein. Dass wir einander so akzeptieren, wie wir sind. Das ist für mich eine friedliche Gesellschaft. Das ist für mich Frieden.

Aber viele Dinge sorgen dafür, dass wir aggressiv reagieren. Ein Beispiel aus unserem Nachbarschaftsprojekt: Wir arbeiten mit zwanzig Hausgemeinschaften. Eine Hausgemeinschaft besteht aus mehreren Gebäuden, die einen gemeinsamen Innenhof haben. Rund um den Hof leben vielleicht etwa 2000 Menschen. Wir arbeiten mit den Vertreter*innen dieser Höfe, die versuchen, in ihrer Nachbarschaft eine solche Atmosphäre zu schaffen. Aber während des Krieges gibt es viele Dinge, die Unruhe schaffen. Zum Beispiel wurde beschlossen, Bücher zu sammeln, um sie an die Bibliothek in Leipzig zu schicken, damit die Geflüchteten dort Bücher in ihrer eigenen Sprache haben.

Eine ganz einfache Idee. Dabei sollte eigentlich kein Konflikt entstehen.

Aber dann kam die Frage auf: „In welcher Sprache sollen die Bücher gesammelt werden?“ „Ukrainisch? Oder auch Russisch? Oder nur Ukrainisch?“ Und da wurden die Menschen sehr emotional. Und wir und unsere Partner haben gesagt: „Okay, dann lasst uns darüber sprechen.“ Es gab ein Gruppentreffen zum Thema Sprache. Alle erzählten ihre persönliche Geschichte und sprachen offen darüber, warum sie sich vielleicht unwohl fühlen und was sie darüber denken. Es waren nur zwanzig Leute, aber das Treffen hat Stunden gedauert. Und danach kannten alle die persönlichen Geschichten der anderen und was sie mit den Sprachen verbinden. Und dann ging es nicht darum, für die richtige Sprache zu kämpfen oder darum, welche die offizielle Sprache ist. Vielmehr ging es am Ende um das menschliche Miteinander. Und das bedeutet: Mit dieser Methode helfen wir nicht nur den zwanzig Menschen bei dem Gruppentreffen. Sondern sie lernen, wie sie auf konstruktive Weise über schwierige Themen sprechen und Empathie füreinander entwickeln können. Diese Erfahrung und diese Fähigkeiten nehmen sie mit und teilen sie mit den hunderten Menschen, die in ihrem Gebäude leben."

 


Wir haben dich gebeten einen besonderen Gegenstand zum Interview mitzubringen. Was möchtest du zeigen?


"Ich habe diese Muscheln mitgebracht. Sie stammen aus dem Atlantik bei Ghana. Ich habe dort fünf Monate lang in einem kleinen Fischerdorf gelebt. Dort habe ich eine starke Verbindung zur Natur, zum Meer und zu verschiedenen Weltsichten aufgebaut. Und ich finde, diese Muscheln können eine große Geschichte erzählen. Ihnen wohnt eine Weisheit des Lebens inne. Denn das Meer war schon lange vor uns Menschen da. Wir können die Schönheit des Meeres schätzen lernen und es als Lebewesen betrachten. So machen es auch die Fischer*innen in Ghana. Sie sprechen vom Meer wie von einem Lebewesen. Sie sagen: „Das Meer mag es nicht, wenn man im Dunkeln schwimmt.“ „Richte kein helles Licht auf das Meer.“ „Das Meer braucht seine Ruhe.“ Und darin steckt so viel Weisheit. Man könnte denken: „Ach, diese Leute reden nur irgendwas.“ Aber tatsächlich gibt es im Meer viele Lebewesen, die von hellem Licht gestört werden. Wenn wir also nicht anfangen zu urteilen, nur weil uns etwas seltsam vorkommt, sondern wirklich versuchen zu verstehen, und wenn wir offen für diese Weisheit sind, dann kann das unsere Beziehung zu allen Dingen und zu allen Menschen verbessern. Ich denke, das kann echten Frieden bringen.

 

Du arbeitest für den Frieden. Welche Eigenschaften braucht man dafür?

Das ist tatsächlich eine gute Frage. Ich stelle mir selbst diese Frage: „Was muss ich mitbringen, um etwas zum Besseren zu verändern?“ Und ich denke, zwei Dinge sind besonders wichtig: ein offenes Herz und ein offener Geist. Ein offenes Herz, weil du dich in die Menschen einfühlen musst. Dabei spielt es keine Rolle, ob du ihre Meinung teilst oder nicht. Du brauchst ein offenes Herz, um eine Verbindung zu den Menschen herzustellen. Und einen offenen Geist, weil wir alle unsere eigenen Meinungen und Erfahrungen mitbringen. Die Menschen haben Unterschiedliches erlebt. Du musst offen sein um ihnen zuzuhören und um deinen Horizont zu erweitern, und um ihre Geschichten und Meinungen zu hören. Um zu verstehen: Warum denken sie so? Warum fühlen sie so? Ohne dieses Werkzeug kannst du keine Friedensarbeit machen. Ich denke, das sind die beiden wichtigsten Aspekte, abgesehen von den Kenntnissen der verschiedenen Methoden der Friedensarbeit, die man lernen muss. Und vielleicht noch etwas Drittes, das ich hinzufügen möchte. Das ist nicht leicht und nie vollständig, aber: Du brauchst inneren Frieden. Wenn die Gefühle in dir hochkochen, wenn du mit deinen eigenen Problemen beschäftigt bist, wenn in dir ein Feuer lodert, dann kannst du nicht für andere da sein. Und das bedeutet eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst, um jeden Tag den eigenen, inneren Frieden zu finden und mehr für andere da sein zu können. Und ich bin überzeugt, dass wir alle in unserem täglichen Handeln Frieden stiften können. Du brauchst das nicht beruflich zu machen. Wir alle können zu einer friedlicheren Welt beitragen. Das ist meine Botschaft: Es ist deine Entscheidung! Jeden Tag, wenn du die Wohnung verlässt oder nach Hause kommst, hast du die Wahl. Und niemand kann dich daran hindern.

 

 



Quelle: Video-Transkript von https://youtu.be/B7fkrhVJbYc?feature=shared

 


Dieser Text ist Teil der multimedialen Ausstellung "Gesichter des Friedens" von Pro Peace
Die Plakate sind zu sehen vom 2. - 30.6.2025 im 2. Obergeschoss der Stadtbibliothek Braunschweig (Lesesaal).