-- Ergänzung zur Ausstellung : Video-Interview als Lesetext. --


"Mein Name ist Yuliia und ich komme aus der Ukraine.

"Ich heiße Nastia und komme aus Russland."

"Ich spreche zweieinhalb Sprachen. Meine Muttersprachen sind Ukrainisch und Russisch. Auf Russisch haben wir nur ein Wort für „Frieden“ und „Welt“. Das Wort ist „Mir“. Es ist dasselbe Wort. In einer perfekten Welt bedeutet Frieden für mich das tägliche Leben! Wenn du dich sicher fühlst und die Freiheit hast, du selbst zu sein, unabhängig vom Geschlecht, Alter, deiner Lebenssituation und deinem Platz in der Gesellschaft."

Anastasia kommt aus Russland und studierte Schauspiel. Als Theaterpädagogin und Regisseurin war sie bereits in verschiedenen Ländern weltweit tätig und setzt ihre Kunst als Methode der Friedensarbeit ein. Yuliia wuchs in der Nähe von Dnipro in der Ukraine auf. Sie studierte Psychologie und arbeitete zunächst als Lehrerin. Beide Frauen mussten wegen des Krieges ihre Heimat verlassen. Heute lebt das Ehepaar in Deutschland. Mit „Playback“, einer Form des Improvisationstheaters, schaffen sie Räume für Dialog und Begegnung, auch von Menschen aus Russland und der Ukraine.

 

Nastia, du bist in Russland aufgewachsen. Wie hat dich das geprägt?

"Ich wurde in Moskau geboren und ich komme aus einer ziemlich konservativen Familie. In meiner Schule gab es vor allem russische Kinder. Aber es gab auch einige Kinder aus Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan. In unserer Klasse waren mindestens vier Jungen aus Tadschikistan und Usbekistan. Und Kinder können manchmal sehr grausam sein. Sie sprechen all die Dinge aus, die sie von ihren Eltern und in der Gesellschaft hören. Diese Kinder wurden wirklich gemobbt. Und ich selbst war auch nicht super beliebt. Ich war wie eine kleine graue Maus. Und ich fühlte mich so machtlos! Ich hatte wirklich Angst um diese Kinder. Ich verstand nicht, warum die anderen sie mobbten. Es war echt schlimm. Ich fühlte mich machtlos und dachte: „Mir kann das auch passieren!“ „Jede*r kann gemobbt werden und niemand wird uns beschützen.“ Denn die Lehrkräfte haben das einfach ignoriert. Das habe ich nicht verstanden: Sie hatten die Macht, aber griffen nicht ein. Davon war ich sehr enttäuscht. Als ich dann ein Teenager war, gingen meine Mitschüler*innen auf ihre ersten Dates. Das war natürlich das große Thema: die ersten Verabredungen mit Jungs. Ich habe es auch ausprobiert. Aber es hat mir nicht wirklich gefallen. Ich dachte, vielleicht stimmt mit mir etwas nicht. Vielleicht ist etwas in mir kaputt!

Als ich 20 wurde, lernte ich eine Frau kennen. Sie sagte: „Ich habe eine Frau.“ Ich sagte: „Was?! Du meinst, einen Mann?“ Sie sagte: „Nein, eine Frau.“ Da wurde mir klar, dass es Menschen wie mich gibt und dass Menschen unterschiedliche sexuelle Orientierungen haben können. Ich war völlig schockiert! Nicht davon, dass es diese Menschen gibt und dass ich eine davon sein könnte. Sondern ich war schockiert, dass ich bis zu diesem Alter nicht erfahren hatte, dass diese Menschen überhaupt existieren! Niemand hat darüber gesprochen. Es ist ein großes Tabuthema in der Gesellschaft. Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich habe dann einige Leute wie mich kennengelernt. Ich bin lesbisch. Und mir wurde klar, wie wichtig es ist, diese Geschichten zu hören und diese Stimmen zu hören, die in unserer Gesellschaft oft ungehört bleiben. Und es gibt viele solcher Stimmen. Es geht nicht nur um die LGBTQ+ Community. Es gibt viele solcher Themen."



Yuliia, du bist Lehrerin. Warum hast du dich für diesen Beruf entschieden?


"Auch meine Geschichte beginnt in meiner Kindheit. Als kleines Mädchen war ich voller Energie. Ich war immer ein sehr mutiges und aktives Kind. Aber manchmal sagten meine Verwandten zu mir: „Du bist doch ein Mädchen.“ „Bitte sei höflicher. Sei nicht so laut. Sag dies nicht, tu das nicht!“ Und die ganze Zeit habe ich mich gefragt: Warum? Ich bin doch einfach ich selbst. Ich mache, was mir gefällt. Ich mache ja nichts Böses. Ich lebe einfach mein Leben. Warum muss ich in irgendeine Schublade passen?

Auch in der Schule war ich immer sehr aktiv. Ich war in der Schülervertretung. In meinem letzten Schuljahr sogar als Vorsitzende. Wir haben viel gemacht: Veranstaltungen, Treffen und andere Dinge. Und die ganze Zeit haben wir versucht, mit den Lehrkräften und der Schulleitung zu sprechen und ihnen unsere Bedürfnisse und Gefühle zu erklären. Wir wollten einen echten Dialog auf Augenhöhe. Es sollte nicht so sein: „Du hast zu tun, was ich sage, denn du bist das Kind!“ „Und ich die Lehrkraft!“ Vielleicht habe ich mir deshalb meinen Beruf ausgesucht.

Nach der Schule habe ich Psychologie studiert. Aber als ich fertig mit der Uni war, wurde ich zufällig gebeten, bei einer Sache zu helfen: Ein Freund bat mich, als Assistentin an einer Montessori-Privatschule auszuhelfen. Und da dachte ich: Wow! Denn zum ersten Mal lernte ich einen guten pädagogischen Ansatz kennen. Deshalb wurde ich Lehrerin. Und mein Beruf hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich eine wirklich wichtige Arbeit mache: Wir ziehen eine neue Generation groß und wir erzählen ihnen zum Beispiel etwas über Frieden, über Vorurteile und Diskriminierung, und über Menschlichkeit."

 

Nastia, in Russland hast du Anfeindungen wegen deiner sexuellen Identität erlebt. Kannst du uns davon erzählen?

"Für mich hat sich damals eine ganz neue Welt eröffnet: Ich machte die ersten Schritte. Ich fing gerade erst an zu verstehen, wer ich bin, was ich mag und in wen ich mich verliebe. Ich verstand: Ich verliebe mich in Frauen. Und dann wurde ich eingeladen, ein Projekt mit der LGBTQ+ Community zu machen: Ich habe eine Gruppe für psychosoziale Unterstützung geleitet. Einmal fand ein großer Coming-Out-Tag statt. An diesem Tag wollten wir alle Sexualitäten feiern, die es gibt. Das fand in einem Café in Moskau statt. Es gab wunderschöne Gedichte und Musik. Es wurde Gitarre gespielt, getanzt und es gab Kunst. Aber zu dieser Zeit war gerade ein neues Gesetz verabschiedet worden. Es war ein Gesetz „gegen die Propaganda für Homosexualität“. Niemand weiß, was das überhaupt bedeuten soll. Bin ich selbst die Propaganda oder was? Aber dieses Gesetz hat die Stimmung in der Gesellschaft stark aufgeheizt.

Ich wurde also eingeladen, am Coming-Out-Tag über mein Projekt zu sprechen. Ich hielt das Mikro in der Hand und ging gerade auf die Bühne. Plötzlich stürmten 30 maskierte Leute in den Raum. Sie schlugen auf die Leute ein und zertrümmerten die Möbel. Ein Mann fuchtelte sogar mit einer Waffe herum. Es war völlig surreal, wie in einem Film. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich kauerte mich in einer Ecke zusammen und wartete, dass es vorbeiging. Aber die größte Enttäuschung war nicht das, was passiert ist. Sondern wie die Polizei reagierte! Viele Menschen waren verletzt, einige mussten ins Krankenhaus. Aber als die Polizei kam, sagten sie einfach: „Nehmt eure Sachen und geht nach Hause.“ „Wir werden kein Strafverfahren einleiten.“ Wir fragten: „Warum?“ Sie sagten: „Ihr versteht schon… so Leute wie ihr eben.“ „Wir wollen keinen Ärger bekommen.“

Das hat mich echt geschockt! Natürlich war ich auch schockiert über die Gewalt, aber das war definitiv die größte Enttäuschung für mich. Ich dachte: „Was soll das?“ „Wir sind doch auch Menschen, wo ist der Unterschied?“ Ich glaube, deshalb bin ich Aktivistin geworden. Ich wollte diesen Stimmen helfen gehört zu werden. Ich wollte, dass wir als Gesellschaft wachsen und Tabuthemen aufbrechen. Ich wollte diesen Menschen helfen zu überleben. Damit wir alle ohne Vorurteile leben können und nicht unterdrückt werden wegen unserer Hautfarbe, Herkunft, Sexualität, Alter oder anderen Dingen.

Das war die Zeit in meinem Leben, als ich Playback-Theater kennenlernte. Im Playback hören wir den Geschichten aus dem Publikum zu. Und mit Theater und Musik spielen wir die Geschichten auf der Bühne nach. Ich habe mich direkt in diese Art von Theater verliebt. Ich hatte immer eine Leidenschaft für Theater und für soziale Gerechtigkeit. Und beim Playback verschmelzen diese beiden Dinge! Das ist es, was ich beruflich machen möchte und ich möchte es auch anderen Leuten beibringen. Playback ist ein großartiges Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel."

 

Wie genau funktioniert Playback-Theater?

"Beim Playback sind Schauspieler*innen und Musiker*innen auf der Bühne. Eine Person führt durch den Auftritt und fragt das Publikum nach einem bestimmten Thema, zum Beispiel ein Gefühl oder eine Erinnerung. Die Schauspieler*innen spielen das Gehörte auf der Bühne nach. Dadurch verlassen wir die Ebene der Logik und der Meinungen und gehen zu den echten Geschichten. Wir fragen nicht nur, was passiert ist, sondern verstehen, warum jemand eine bestimmte Meinung hat oder woher diese Gefühle und Gedanken kommen. Meistens hängt das mit den Erfahrungen dieser Person zusammen. Und mithilfe der Gefühlsebene können wir einander verstehen, denn wir sind ja alle Menschen."

 

Und wie bist du zum Playback-Theater gekommen, Yuliia??

"Ein Freund lud mich zu einem Auftritt ein. Danach war ich total verblüfft! Ich fragte: „Wie habt ihr das gemacht?“ Es war wie Magie, wie ein Wunder! Es erschien mir unmöglich: Sie hatten die Geschichte erst vor einer Sekunde gehört und schon haben sie daraus etwas Tolles gemacht! Ich wollte lernen, wie das geht. So wurde das mein schönstes Hobby. Nach meiner schönen Arbeit ging ich zu den Proben und zu Playback-Kursen. Wir hatten verschiedene Auftritte in meiner Stadt, zum Beispiel für Kinder, Teenager und Eltern. Wir haben Themen angesprochen, die die Menschen beschäftigt haben, wie etwa Sexualität. Das ist ein Tabuthema in der Gesellschaft. Auch andere Dinge haben wir thematisiert, zum Beispiel die Beziehungen in der Familie oder den Krieg im Donbass. Denn zu dieser Zeit sind viele Menschen aus dem Donbass geflohen. Wir haben sehr viel gemacht. In der Ukraine gibt es eine große Community für Playback-Theater. Sogar jetzt im Krieg wächst diese Community. Es ist sehr wichtig, geschützte Räume zu schaffen, wo Gemeinschaft entsteht und die Menschen sie selbst sein können.

Playback-Theater löst nicht das Problem, aber die Geschichten helfen uns das Problem zu verstehen. Und dadurch entsteht Mitgefühl. Aus Verständnis entsteht Mitgefühl und aus Mitgefühl entsteht Veränderung. Wir setzen Playback-Theater für verschiedene Zwecke ein. Wir können damit einen Dialog herbeiführen, sogar zwischen Parteien, die sich nie vorstellen konnten miteinander zu reden anstatt zu kämpfen. Wir können Playback-Theater auch zur Heilung einsetzen, zum Beispiel nach einem gesellschaftlichen Trauma oder nach Katastrophen wie Klimawandel oder Krieg. Und wir können Playback-Theater dazu nutzen, die Gesellschaft aufzuklären.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die zeigt, wie Playback zum Verständnis verschiedener Perspektiven beiträgt. Das war in Nepal. Nach dem Krieg wurde dort Playback für gesellschaftlichen Wandel eingesetzt und um Gespräche zwischen den ehemaligen Konfliktparteien zu ermöglichen. Es gab eine Aufführung mit lokalen Schauspieler*innen. In Nepal hat jedes Dorf eigene Traditionen. Eine Frau setzte sich auf den „Erzählstuhl“ und fing an zu erzählen. Im Alter von 14 Jahren war sie zu einer Heirat gedrängt worden. Sie bekam zwei Kinder. Der Mann zog in den Krieg und kam nie zurück. Sie war nun eine Witwe mit zwei Kindern. Das Leben war also nicht einfach für sie. Aber dazu kam, dass es in ihrem Dorf einen Aberglauben gab: Eine Witwe zu sein, bedeutete Unglück. Sie wurde nie zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen. Die Leute haben über sie getratscht: „Sie sucht bestimmt einen neuen Mann!“ Wenn sie zum Beispiel einfach nur in ein anderes Dorf ging.

Wir können uns also vorstellen, dass ihr Leben sehr schwierig war. Sie wurde in der Dorfgemeinschaft an den Rand gedrängt. Das alles erzählte sie. Die Schauspieler*innen spielten ihre Geschichte. Und für das Publikum war das alles nicht neu! Sie waren ja genau die Menschen, die über die Frau getratscht und sie ausgeschlossen hatten. Was macht es also für einen Unterschied, diese Geschichte zu hören? Aber es ist eine ganz menschliche Reaktion! Nach dem Auftritt sprachen die Leute im Publikum untereinander: „Wir wussten nicht, dass du es so schwer hast!“

Wenn man dieselbe Geschichte auf der Logik-Ebene und auf der Gefühlsebene hört, ist die Wirkung eine ganz andere. Bei diesem Auftritt ist ein geschützter Raum entstanden und das Mitgefühl hat die Perspektive der Leute verändert. Das ist ein sehr einfacher Mechanismus und gleichzeitig etwas sehr Komplexes, das uns häufig fehlt. Und natürlich ist beim Playback auch der Kontext sehr wichtig. Wir fragen uns immer, ob wir genug Infos über die Hintergründe haben.

Ein Beispiel: Das war bei einem anderen Auftritt in einem Land im Krieg. Ich sage nicht welches Land, damit es anonym bleibt. Ein Mann nahm auf dem „Erzählstuhl“ Platz und erzählte eine Geschichte. Aber es war gar keine richtige Geschichte. Im Playback brauchen wir da mehr Infos: Was ist vorher passiert? Wie bist du damit umgegangen? Diese ganzen Details. Aber er sagte nur einen kurzen Satz: „Heute Morgen habe ich am Meer eine Tasse Kaffee getrunken und ich habe es genossen.“ Wir haben uns gefragt: „Okay, und was ist dann passiert?“ Aber weil im Publikum nur Einheimische saßen, haben sie die Geschichte verstanden. Denn in dieser Gegend gibt es ständig Luftangriffe. Es ist schier unmöglich, eine Tasse Kaffee zu trinken. Ständig bist du in Gefahr und musst in einen Schutzraum gehen.

Diese Tasse Kaffee und dieser Moment der Ruhe war für diese Person etwas ganz anderes als für mich, wenn ich hier in Deutschland eine Tasse Kaffee trinke. Das hat den Kontext verdeutlicht. Dieser einfache Satz hat die Geschichte aller Menschen in dieser Gegend ausgedrückt. Und ich dachte: „Wow, wir alle haben unsere eigene Tasse Kaffee!“ „Und die ist ganz unterschiedlich, je nachdem, wo wir im Leben sind!“ Das finde ich sehr interessant. Wir, die wir diese Art von Theater machen, wir müssen dabei als Menschen wachsen und versuchen, den Kontext wirklich zu verstehen."

 

Mit playback-theater helft ihr anderen Menschen, mit schwierigen Erfahrungen umzugehen. Aber auch ihr selbst habt solche Erfahrungen gemacht. Am 24. februar 2022 begann Russland, das gesamte Staatsgebiet der Ukraine anzugreifen. Wie habt ihr den Angriff und die Tage danach erlebt?

"Es war am 23. Februar 2022, spät in der Nacht. Ich habe mit Nastia telefoniert. Wegen der Zeitverschiebung hatte nämlich ihr Geburtstag schon angefangen. Ich habe ihr gratuliert und dann bin ich ins Bett gegangen. Und dann bin ich in dieser schrecklichen Situation aufgewacht. Ich rief sie an und sagte: „Sie bombardieren uns!“ Meine Freund*innen und ich sind mit dem Auto aus der Stadt geflohen. Es war völlig unwirklich! An der Tankstelle war eine riesige Schlange. Über unserem Auto flogen die Raketen. Und gleichzeitig rief ich einen Lieferservice in Moskau an, um Nastia Blumen und Luftballons zu schicken."

"Die hattest du in der Nacht davor bestellt, richtig? Ja. Genau, am 24. Februar hatte ich Geburtstag. Sehr früh am Morgen rief Yuliia mich an. Ich glaube, die Luftangriffe begannen um fünf Uhr. Es war wirklich total surreal! Um 10 Uhr war ich komplett in Panik. Ich habe nach Flügen gesucht und die ganze Zeit Yuliia gefragt: „Ist alles okay?“ Sie hat geweint und versuchte zu fliehen. Wegen der Bombardierung mussten sie ständig die Route ändern. Die Autos waren voller Kinder mit Yuliias Freund*innen und ihrer Familie. Und dann, um 10 Uhr, bekam ich diese Luftballons und Blumen von meiner Freundin, die sie aus der Ukraine heraus bestellt hatte. Das war so verrückt! Als träfen zwei Welten aufeinander. Wie im Film!

Vier Tage lang konnte ich nicht schlafen. Ich konnte nichts essen. Ich habe einfach nur versucht rauszukommen. Denn mit Beginn des Angriffs schossen die Preise für Flüge in die Höhe. Die Grenzen wurden geschlossen und der Luftraum wurde für russische Flugzeuge gesperrt. Ich habe schließlich ein Ticket nach Ungarn gekriegt. Das war der einzige Ort, wo ich mit meiner Impfung hinreisen konnte, wegen der Pandemie-Regeln. Und das Land grenzt auch an die Ukraine, sodass Yuliia dort die Grenze überqueren konnte. Genau. Für etwa dreieinhalb Tagen blieben meine Freund*innen und ich in Ushkarat im Westen der Ukraine. Dann habe ich die Grenze nach Ungarn zu Fuß überquert und wir haben uns in Budapest getroffen."

 

Heute lebt ihr in Deutschland. Könnt ihr hier eure Arbeit fortsetzen?


"Sag du."

"Nein, das ist dein Spezialgebiet."

"Ach was! Also, wir machen jetzt noch mehr Playback-Theater und Aktivismus. Das haben wir vorher auch schon gemacht, aber jetzt ist es unser Beruf. Wir arbeiten für Friedensorganisationen und machen Auftritte und Workshops. Yuliia arbeitet mit ukrainischen Gruppen und ich mit russischen. Manchmal machen wir auch Auftritte für ein gemischtes Publikum mit Menschen aus Deutschland, Russland und der Ukraine. Wir versuchen, einander zuzuhören und eine Verbindung aufzubauen. Und dann geschieht ein Wunder. Ich weiß, dass es aufgrund der Situation zurzeit sehr schwer ist, überhaupt in einem Raum zu sein. Viele Menschen haben damit zu kämpfen. Ich verstehe, dass die Situation komplex ist. Aber gleichzeitig sehen wir nach unseren Auftritten, wie die Leute eine Tasse Tee und ein Glas Wein zusammen trinken und miteinander reden.

Eine Playback-Aufführung ist nicht wie eine Podiumsdiskussion. Es geht nicht um einen Schlagabtausch von Meinungen. Es geht einfach darum, an einem Küchentisch zusammenzusitzen und zu erzählen. Das bringt die Menschen einander näher. Es ermöglicht, Gräben zu überwinden und einander zuzuhören. „Dialog“ wäre vielleicht ein zu großes Wort. Aber wir versuchen, dass der Kontakt nicht ganz abreißt. Denn wenn das passiert, könnte die Zukunft ganz anders aussehen. Wir waren bei vielen Veranstaltungen und Konferenzen mit Menschen von verschiedenen Seiten. Oft gab es Podiumsdiskussionen und das ist echt schwierig für die Menschen.

Nur bei Playback-Aufführungen habe ich gesehen, dass in dieser Situation ein Dialog gelungen ist. Es geht nicht darum zu sagen: „Ich bin im Recht!“ Es geht wirklich um Dialog. Das ist nicht einfach und das ist keine Zauberei. Es ist wirklich harte Arbeit. Aber es funktioniert. Genau, wenn wir Geschichten austauschen anstatt Meinungen, dann verstehen wir das Warum. Das löst die Anspannung und wir können miteinander sprechen."

 

Welche Projekte beschäftigen euch gerade besonders?


"Ich mache ein paar Projekte mit Nastia zusammen und ein paar eigene. Zum Beispiel mache ich ein Projekt mit Ukrainer*innen in Berlin, um ihnen in dieser schwierigen Situation beim Ankommen zu helfen. Zum Beispiel hatten wir letzte Woche eine Aufführung für ukrainische Menschen mit HIV, die jetzt in Deutschland leben. Die Situation für diese Menschen ist in der Ukraine ganz anders als in Deutschland. Dort erfahren sie wegen ihrer Krankheit Stigmatisierung und Vorurteile. Wir versuchen, sie in dieser Situation zu unterstützen und ihre Gemeinschaft zu stärken. Das ist ein Beispiel.

Wir arbeiten auch mit ukrainischen Geflüchteten. Nächste Woche haben wir eine Aufführung in Rom für die ukrainische Community. In Berlin haben wir auch ein Projekt mit einer multikulturellen Gruppe für Ukrainer*innen und Russ*innen in Deutschland. Es sind 25 Leute. Wir werden jetzt ein halbes Jahr mit ihnen arbeiten. Wir schulen sie darin, Playback-Theater als Werkzeug für Dialog einzusetzen. Denn wir leben jetzt alle hier in Europa. Und leider wird sich die Situation so schnell nicht ändern. Auch wenn es traurig ist, das zu sagen: So schnell wird sich das nicht ändern. Also müssen wir zusammenleben.

Wir sind alle in dieser Stadt, in diesem Land. Wie können wir zusammenarbeiten und uns gegenseitig auf dem Weg zur Demokratie und Integration unterstützen? Indem wir jetzt etwas tun, denken wir auch schon an die Zukunft. Wir arbeiten also mit einer gemischten Gruppe. Dieses Projekt ist ziemlich einzigartig. Manche kritisieren uns vielleicht dafür. Aber die Teilnehmenden entscheiden selbst, ob sie zu dieser Gruppe kommen wollen."

 

Angesichts des Krieges is es keine Selbstverständlichkeit, dass ihr gemeinsam auf der Bühne steht. Habt ihr auch negative Reaktionen erlebt?


"Unser Projekt ist wegen der Situation nicht so beliebt. Und ja, manchmal schlägt uns deshalb Hass entgegen. Ich erinnere mich an eine Situation in Australien. Wir hatten einen Auftritt bei einem Projekt namens „Studierende gegen Rassismus“. Wir wussten vorher nicht, dass im Publikum auch einige Menschen aus der Ukraine waren. Wir stellten uns vor: Yuliia aus der Ukraine und Nastia aus Russland. Nastia sagte etwas auf Russisch. Da hob eine Frau die Hand und sagte: „Ich will kein Russisch hören.“ „Ich will euch beide nicht auf einer Bühne sehen.“ „Das ist so schwer für mich.“ 

Wir haben ihre Geschichte und ihre Gefühle in unserer Performance aufgegriffen. Auch wenn es nicht unsere eigene Meinung ist, haben wir sie ehrlich wiedergegeben. Danach kam diese Frau zu uns und sagte: „Vielen Dank. Ihr habt mich verstanden.“ Und sie war danach ganz entspannt. Genau. Wir haben ihr gezeigt: „Wir hören deine Geschichte.“ „Du darfst wütend und traurig sein. Das ist dein Recht.“ „Wir sehen dich und wir spielen, was wir sehen.“ „Wir akzeptieren dich und es ist okay, diese Gefühle zu haben.“ Das hat die Anspannung gelöst und wir konnten miteinander reden. 

Wir haben nach dem Auftritt lange mit ihr geredet, über das Leben und andere Dinge. Und ich denke, wenn sie ihre Geschichte nicht geteilt hätte, hätten wir einander vielleicht nicht einmal gegrüßt. Sie hat uns dann noch zu unserer Beziehung gefragt und wie es uns geht."


Wir haben euch gebeten einen besonderen Gegenstand zum Interview mitzubringen. Was möchtet ihr zeigen?


"Ist es zu glauben, dass diese Jacke schon 40 Jahre alt ist? Es ist das einzige Kleidungsstück von meiner Oma, das ich noch trage. Sie ist jetzt 83 und sie war in ihren 40ern, als sie diese Jacke bekam. Ich habe sie mitgebracht, weil es nicht nur eine Jacke ist. Es symbolisiert die Verbindung, die ich heute mit meiner Oma habe. Früher konnte sie sehr streng sein. Sie sagte: „Was hast du für eine Frisur? Mir gefällt deine Jeans nicht.“ „Du siehst aus wie ein Junge!“ Aber heute kann ich mit ihr richtig gut reden. Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal besuchte, nachdem der Großangriff begonnen hatte. Wir haben Geschichten ausgetauscht, keine Meinungen. Sie hat genau zugehört. Und dann hat sie angefangen, die Situation kritisch zu hinterfragen. Ich war so stolz auf sie! Ich glaube, wir kommen uns jetzt immer näher. Also für mich ist das ein Symbol für die Verbindung zwischen den Generationen."

 

Yuliia, welchen Gegenstand möchtest du zeigen?


"Ich habe diesen Magneten mitgebracht. Darauf steht eine ganz klare Botschaft: „Make theater, not war“ Ich habe diesen Magneten von einer berühmten Playback-Schauspielerin aus Israel bekommen. Sie ist ein Star aus der ersten Generation des Playbacks. Sie ist schon über 90 Jahre alt. Sie ist großartig. Dieser Magnet erinnert mich an den Konflikt in Israel und Palästina. Ich möchte nicht, dass unsere Länder in Zukunft so werden. Ich will diesen riesigen Konflikt nicht. Vielleicht sollten wir einfach nur Theater spielen!"

"Ja, haben wir! Erzähl du bitte."

"Also wir haben diesen Traum. Vielleicht wird er nie Wirklichkeit, aber wir hoffen, dass es zu unseren Lebzeiten noch passiert. Es ist ganz einfach: Wir möchten uns gegenseitig die Orte zeigen, an denen wir aufgewachsen sind. Bisher hatten wir keine Gelegenheit dazu. Wir haben ja in verschiedenen Ländern gewohnt. Wir hatten keine Zeit einander zu zeigen, wo wir aufgewachsen sind, wie sah der See hinter unserem Haus aus, unseren Lieblingsbaum… Diese kleinen Dinge. Es ist interessant zu sehen, wie wichtig solche Dinge werden, wenn man sie nicht haben kann. Ja. Jetzt können wir weder in meinem Land noch in Nastias Land sein. Nur in einem dritten Land."

 



Quelle: Video-Transkript von https://youtu.be/Bmbjyn7LSeI?feature=shared

 


Dieser Text ist Teil der multimedialen Ausstellung "Gesichter des Friedens" von Pro Peace
Die Plakate sind zu sehen vom 2. - 30.6.2025 im 2. Obergeschoss der Stadtbibliothek Braunschweig (Lesesaal).