-- Ergänzung zur Ausstellung : Video-Interview als Lesetext. --


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Ich habe diese Friedenstaube mitgebracht. Für mich ist sie ein Symbol: für Abdelaziz und für Syrien. Wir setzen uns für Frieden ein. Schon immer. Für immer. Seitdem er mir diese Kette um den Hals gelegt hat, habe ich sie nicht ausgezogen. Das heißt: Auch wenn Abdelaziz nicht da ist, werde ich seine Botschaft tragen, solange ich kann. Und nicht nur seine Botschaft! Sondern die aller Menschen, die an Frieden glauben. An einen Frieden, der auf Menschenrechten und auf der Würde jedes Einzelnen beruht. Sie dürfen uns nicht niederdrücken und gleichzeitig von Frieden sprechen. So einem Frieden werde ich nicht zustimmen.

Fadwa Mahmoud kämpft schon ihr ganzes Leben für einen friedlichen politischen Wandel in Syrien. 2012 verhaftete das Regime ihren Mann, den bekannten Oppositionspolitiker Abdelaziz Al Khayer, und ihren Sohn Maher. Seitdem wurden die beiden nicht mehr gesehen. Fadwa Mahmoud selbst floh nach Deutschland. Mit ihrer Organisation „Families for Freedom“ setzt sie sich dafür ein, dass politische Gefangene freigelassen und die Schicksale der Verschwundenen aufgeklärt werden.

 

Fadwa, du bist in Syrien aufgewachsen. Wann bist du das erste Mal politisch aktiv geworden?

"Ich fange bei meinem Vater an. Mein Vater, Gott hab ihn selig, war ein wohlhabender Landbesitzer. Ich war in der vierten Klasse damals, wurde langsam älter. Mein Vater wollte zu einem Dorf gehen und die Ernte einholen. Ich ritt sehr gerne und wir hatten reinrassige Pferde. Deshalb wollte ich unbedingt mitkommen. Ich saß also hinter meinem Vater auf dem Pferd und wir ritten zu diesem Dorf. Mein Vater stieg ab. Ich blieb auf dem Pferd sitzen. Mein Vater rief einem der Bauern zu, er solle mich herunterheben. Ich habe protestiert: Warum soll er mich herunterheben? Warum machst du das nicht selbst? Ich habe damals die Ungleichheit in der Gesellschaft gespürt. Das gefiel mir nicht.

Als ich dann in die Oberstufe kam, habe ich immer mehr gelesen. Ich habe angefangen, politische Bücher zu lesen. Später habe ich studiert, zusammen mit meinem Bruder Adnan. Über ihn werde ich gleich noch sprechen, wir beide haben nämlich eine lange Geschichte. Jedenfalls kam in den 1970er Jahren Hafiz al-Assad durch einen Putsch an die Macht und wurde Präsident von Syrien. Damals sind Adnan und ich auf Demonstrationen gegen den Putsch gegangen. Die Polizei fing an, uns zu verfolgen und zu schlagen. Wir waren damals noch in der Schule. Zu dieser Zeit begann sich in mir ein politisches Bewusstsein zu formen.

Ich kam mehr in Kontakt mit den Menschen in der Gesellschaft und sah, wie viel Ungerechtigkeit da herrschte. Vor allem nach dem Putsch habe ich das sehr deutlich gesehen: Es gab so viel Korruption und Vetternwirtschaft. Das fand ich schwer zu ertragen.

Als mein Vater gestorben ist, bin ich nach Damaskus umgezogen. Ich wohnte bei meiner Mutter und wurde Mitglied in der Kommunistischen Arbeiterpartei. Das war eine geheime Partei. Denn alle politischen Bewegungen waren in Syrien grundsätzlich verboten. In der Zeit von Hafiz al-Assad durfte man seine Meinung nicht äußern. Er hat alle unterdrückt, die versucht haben ihre Meinung zu äußern. Die Menschen hatten Angst. Sie dachten: Wenn ich meine Meinung sage, könnte es sein, dass ich es mit meinem Leben und dem meiner Kinder bezahlen muss. Die Angst hat die Menschen kontrolliert. Nur wenige haben sich damals getraut, „Nein“ zu dem Regime zu sagen. Den Preis haben sie 20 bis 30 Jahre lang bezahlt: mit andauernder Unterdrückung!"



Auch dein Mann und du wurden politisch verfolgt und schließlich verhaftet. Kannst du uns davon erzählen?


"Abdelaziz wurde im Februar 1992 ins Gefängnis geworfen. Ich selbst am 11. März 1992. Er blieb 14 Jahre im Gefängnis. Ich blieb zwei Jahre. Der Grund für unsere Verhaftung war unsere Arbeit in einer verbotenen Partei. Das war der einzige Grund.

Jetzt kommen wir zu einer Ironie des Schicksals. Vorhin habe ich ja erzählt, dass ich mit meinem Bruder Adnan gegen das Assad-Regime protestierte. Aber tatsächlich war es mein Bruder, der mich verhaftet hat. Er hat die Abteilung geleitet, die für politische Verhöre zuständig war. Und er hat mich verhaftet, obwohl er wusste, dass ich zwei Kinder habe, die allein zurückblieben. Ich war also zwei Jahre in Haft. Davon ein Jahr und zwei Monate in einem unterirdischen Gefängnis. Was ich in dieser Zeit erlebt habe, war wirklich heftig. Ein Jahr und zwei Monate lang blieb ich in derselben Kleidung, die ich bei meiner Verhaftung anhatte. Ich bekam einfach keine neue Kleidung! Danach wurde ich ins Duma-Gefängnis gebracht. Dort blieb ich acht Monate.

Dieses Gefängnis stand unter der Leitung meines Bruders. Es gab eine Situation dort, die mich unglaublich provoziert hat. Als ich dorthin gebracht wurde, kam der Büroleiter zu mir. Besuch am Nachmittag war eigentlich verboten. Trotzdem bekam ich gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft Besuch. Ich war darüber sehr überrascht. Ich dachte, vielleicht hat mein Bruder den Büroleiter zu mir geschickt, um mir Kleidung oder andere Sachen zu geben. Aber es war ganz anders: Adnan hatte ihn geschickt, um mir zu sagen: Ich dürfe niemandem erzählen, dass ich seine Schwester bin. Er sagte: „Sag nicht, dass du seine Schwester bist!“ Ich war geschockt. Die anderen Frauen dort können sich bestimmt an die Szene erinnern, denn in Duma waren die Zellen zum Hof hin offen. Ich stand mitten im Hof und schrie aus voller Kehle: „Ihr Frauen: Ich bin die Schwester von Adnan Mahmoud, dem Leiter dieses Gefängnisses!“

Das war meine Reaktion, weil ich es nicht ertragen konnte. Ich blieb also acht Monate im Duma-Gefängnis. Dann wurde mein Verfahren eingestellt und ich kam raus.

Das ist eine kleine Zusammenfassung der Zeiten unter Hafiz al-Assad. Aber trotz all der Qualen und der Unterdrückung sind wir Menschen, die Syrien lieben. Das ist unser Land. Wir arbeiten hart dafür, das Land aufzubauen und die Menschen zu unterstützen. Damals haben wir gegen diese Unterdrückung gekämpft, gegen diese Qualen, denen die Menschen ausgesetzt waren. Dagegen haben wir gekämpft. Wir haben Menschenwürde und Freiheit gefordert! Dass die Menschen frei sind und ihre Meinung äußern können. Dass man Ungerechtigkeiten beim Namen nennen kann. Ich selbst kann nicht schweigen, wenn ich Ungerechtigkeit sehe. Aber wenn man die Fehler benannte, wurde man sofort verurteilt. Sie waren ja alle Komplizen in dem Unrecht, das dort stattfand. Dagegen haben wir Widerstand geleistet. Egal, wie viel Macht jemand hat: Alle, die korrupt und ungerecht sind, werde ich damit konfrontieren. Ich, Fadwa, werde vor ihm stehen! Ich weiß nicht wie, aber ich werde es tun! Das habe ich immer getan.

Trotz all der Unterdrückung und der bitteren Erlebnisse hat uns diese politische Arbeit stärker und widerstandsfähiger gemacht. Ich habe immer mit meinen Freundinnen gescherzt: „Wenn ich ins Gefängnis geworfen werde, werde ich euch alle verraten.“ „Ich halte keine Ohrfeige aus.“ „Ich ertrage es nicht, auch nur eine Nacht in einer schrecklichen Zelle zu schlafen.“ „Ich schwöre, ich hole euch alle mit rein.“ Aber der Mensch hat ein enormes Maß an Zähigkeit. Es ist unglaublich, wie viel ein Mensch ertragen kann. Aber das kann man nur, wenn man an die Sache glaubt, für die man kämpft. Sie haben alles mit mir versucht. Sie haben mir mit meinen Kindern gedroht. Der Leiter der politischen Sicherheitsabteilung, also der Chef meines Bruders, sagte zu mir: „Du hast zwei Kinder – ich hole sie und töte sie vor deinen Augen!“ Buchstäblich! Das waren seine Worte! „Ich töte sie, wenn du deine Freunde nicht verrätst!“ Ich antwortete: „Ich werde meine Freunde nicht verraten!“ „Hol sie! Töte sie! Das ist doch für euch ganz normal!“ Auf diesem Niveau haben sie verhandelt."

 

Wie hast du den Beginn der Revolutuion 2011 in Syrien erlebt?

"Es war unser größter Traum, dass sich in Syrien etwas verändert. Das war der Traum, auf den wir so lange hingearbeitet hatten. Als die Bewegung begann, übernahm Abdelaziz die Aufgabe, sich mit politischen Delegationen zu treffen. Meine Rolle war, die jungen Menschen aufzuklären. Mein Sohn Maher war auch dabei. Wir haben Treffen organisiert und darüber gesprochen, wie wichtig es ist, dass die Revolution friedlich bleibt. Dafür habe ich mich immer eingesetzt.

Auch Abdelaziz hat manchmal an den Treffen teilgenommen. Wir saßen dann mit 15 oder 20 jungen Menschen zusammen. Weißt du, das ist das Ergebnis der politischen Wüste, in der diese Generation aufgewachsen ist, ohne Bücher, ohne Internet. Wer hätte sich getraut, politische Bücher zu kaufen? Niemand! Die Unterdrückung wurde von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Das Ergebnis ist, dass es kein politisches Bewusstsein gibt. Als jedoch die Bewegung anfing, wollten alle Menschen ihre Meinung äußern. Nach all den Jahren der Unterdrückung wollten sie endlich ihre Stimme hörbar machen. Aber um alle Meinungen zu hören, braucht es einen gewissen Rahmen, ein Ziel. Sonst gibt es nur Chaos.

Inwieweit wir erfolgreich waren mit unserer Aufklärung, weiß ich nicht, aber zu einem gewissen Grad wohl. Einige Gruppen von jungen Erwachsenen haben sehr gut gearbeitet und sich dafür eingesetzt, dass die Menschen keine Waffen tragen. Sechs Monate blieben die Demonstrationen friedlich. Die Leute haben keine Waffen getragen. Dann gab es einen Vorfall, woraufhin die Ereignisse eskalierten. Und zwar überfielen einige Leute einen Posten an der Schughour-Brücke. Dabei wurde eine ganze Sicherheitstruppe getötet. Ich weiß noch, wie Abdelaziz und ich an diesem Morgen zusammensaßen. Auf einmal liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er sagte zu mir: „Fadwa, die Revolution hat jetzt einen anderen Weg eingeschlagen.“ „Jetzt geht es in Richtung Bewaffnung.“ „Unsere Hoffnung ist verloren! Unsere Ziele sind verloren!“ Ich kann mich genau an diese Worte erinnern.

Unsere Generation kennt die Brutalität dieses Regimes. Wir wissen, dass es fähig ist, das ganze syrische Volk zu opfern, nur um an der Macht zu bleiben. Deswegen hatten wir Angst um die Revolution und um die jungen Menschen, vor allem als sie sich bewaffneten. Jetzt sehen wir ja das traurige Ergebnis: Die Menschen wurden vertrieben, getötet, verhaftet."

 

2012 hat ein schreckliches Ereignis dein Leben für immer verändert. Kkannst du uns erzählen, was passiert ist?

"In meinen Händen halte ich die Hälfte meiner Seele. Die Hälfte meines Herzens. Maher, mein Sohn, und Abdelaziz, mein geliebter Mann, mein bester Freund. Seit dem 20. September 2012 sind sie… Ich trage ihr Bild mit mir, aber in Wirklichkeit trage ich sie in meinem Herzen, egal wohin ich gehe. Abdelaziz und Maher haben nichts getan, außer sich für Frieden einzusetzen. Aber Syrien ist es wert. Der Friede in Syrien ist es wert. Egal, wie viel wir geopfert haben und opfern werden: Wenn dafür Frieden nach Syrien kommt, nehmen wir das alles in Kauf.

Ich erzähle dir, was passiert ist: Abdelaziz arbeitete für eine gewaltfreie politische Lösung. Er gründete das Nationale Koordinierungskomitee. Darin versammelten sich fast alle Parteien, die an eine friedliche politische Lösung glaubten. Abdelaziz war verantwortlich für die internationalen Beziehungen und hatte Kontakte zu allen Ländern. Das war 2012. Was er jetzt wohl denken würde, wenn er unsere Zeit sehen würde? Er war auch in den Medien aktiv, auf unterschiedlichen Sendern. Er traf sich mit Politiker*innen und gab Interviews. Einmal reiste er zu einer Konferenz in Kairo. Dort waren auch extremistische Gruppen, die für die Bewaffnung waren. Sie haben Abdelaziz mit Eiern beworfen, weil er über eine friedliche politische Lösung für Syrien sprach. Diese Stimme machte dem Regime und den Machthabenden Angst. Die Stimme für die Waffen können sie kontrollieren. Dann sagen sie: „Das sind Terroristen“ und verurteilen sie. Aber jemandem wie Abdelaziz – was sollen sie ihm sagen? Er ist ja gegen Waffen. Und davor haben sie Angst.

Weil diese Stimme viele Menschen anzieht, die sich nach Frieden sehnen. Einmal war Abdelaziz mit dem Nationalen Koordinierungskomitee in China. Dort hatte er ein Treffen mit dem Außenminister. Er wollte wie gesagt nach einer politischen Lösung suchen.

Als er auf dem Rückweg von China war... Ich erinnere mich noch genau, wie er mich vom Zwischenstopp in Dubai anrief und sagte: „Schick mir einen der Jungs, damit er mich abholt.“ „Das Auto des Koordinierungskomitees ist voll.“ „Kannst du mir jemanden schicken?“ Damals war der Weg zum Flughafen voller Sicherheitskräfte: die Luftüberwachung, die Armee, der ganze Weg war voll. Ich rief Maher an. Er arbeitete in einer Autofirma. Ich sagte: „Kannst du deinen Papa abholen?“ „Aber warte, ich komme mit dir mit.“ Er meinte: „Nein, Mama, könntest du das Essen vorbereiten,“ „während ich ihn abhole?“ „Dann ist das Essen fertig, wenn wir da sind.“ Also fuhr Maher zum Flughafen. Nach einer halben Stunde rief ich ihn an. Ich fragte, warum es so lange dauert. Er sagte, sie seien noch in der Passkontrolle. Ich sagte: „Okay, wenn sie rauskommen, ruf mich an!“

Du wirst es nicht glauben, aber zehn Minuten später spürte ich den Drang, ihn nochmal anzurufen. Ich rief Maher an. Abdelaziz hatte mir vorher gesagt, dass er sein Handy nicht aufgeladen hatte. Ich solle mir keine Sorgen machen. Ich solle einfach Maher anrufen. Ich rief ihn an. Er sagte mir: „Mama, sie kommen gerade raus und wir steigen ins Auto.“ Ich war direkt beruhigt. Das war um zehn vor fünf. Um zehn nach fünf... Ich weiß nicht, Mutterinstinkt, oder wie du es nennen willst. Ich rief nochmal an. Maher's Handy war aus. Er war nicht erreichbar. Ich habe ihre Kollegen angerufen. Sie waren alle schon zu Hause. Als sie mir sagten, dass sie zuhause sind, wusste ich, dass sie verhaftet worden waren. Dieser Moment war unglaublich schwer. Aber ich hatte immer noch Hoffnung. Ich wollte nicht glauben, dass sie festgenommen worden waren. Und seit diesem Tag ist Fadwa in Bewegung.

Ich habe seitdem keine Ruhe mehr. Ich kenne keine Ruhe mehr. Es gibt nichts, was ich nicht versucht habe, um zu erfahren, wo sie sind. Wo sind sie?"

 

Nach der Verhaftung wurdest auch du von dem Regime immer mehr ins Visier genommen. Was hast du gemacht??

"Ich blieb bis Ende 2013 in Syrien. Die Schikanen des Regimes wurden immer mehr, zum Beispiel per Telefon. Schließlich ging ich mit meinem anderen Sohn in den Libanon. Ich dachte, ich bleibe nur kurz, bis er eine Arbeit gefunden hat, und dann gehe ich zurück nach Syrien. Mein Haus in Syrien hatte ich einem Bekannten von Abdelaziz und dessen Frau überlassen, die eine Bleibe brauchten. Zwei oder drei Wochen später hörte ich, dass er verhaftet wurde. Dabei war er überhaupt nicht politisch aktiv. Innerhalb von fünf Tagen packte ich meine Koffer und wollte zurück nach Syrien. Seine Frau rief mich an. Ich sagte: „Wir sehen uns in Syrien. Lass uns nicht am Telefon sprechen.“ Sie antwortete: „Wie, du willst nach Syrien?!“ „Er wurde doch wegen dir verhaftet!“ „Sie haben gar keine Fragen zu ihm gestellt.“ „Sie haben nur nach dir gefragt.“ „Du kannst nicht zurückkommen!“ „Sie werden dich von der Grenze direkt ins Gefängnis bringen!“

Also blieb ich in Beirut. Dort habe ich angefangen, Demos zu organisieren und die Leute zusammenzutrommeln. Ich demonstrierte vor der russischen Botschaft und vor der UNESCO. Es gab keinen Ort, wo ich nicht war. Überall habe ich Fotos hochgehalten und nach den Gefangenen gefragt. Von 2013 bis 2015 gab es eine große Fluchtbewegung von Syrien in den Libanon. Das war ja der einzige Ausweg für die Menschen. In dieser Zeit hatte ich eine Wohnung im Libanon, von 2013 bis 2015. Jeder, der eine Bleibe brauchte, konnte bei mir unterkommen. Wir haben dort auch Treffen veranstaltet.

Einmal, das war im Mai, saß ich in meiner Wohnung. Plötzlich hörte ich ein lautes Klopfen: Bum, bum, bum! Ich wohnte im 6. Stock. Ich öffnete die Tür. Da stand ein ganzer Trupp Soldaten. Ich fragte, was los sei. Sie sagten, sie müssten die Wohnung durchsuchen. Der Anführer war ein Lieutenant vom Geheimdienst der libanesischen Armee. Er kam mit 20 bis 25 Männern. Es war, als ob sie eine Terrorzelle ausheben wollten. Sie kamen rein und haben alles durchsucht. Nichts blieb, wo es war. Alle Schränke und Schubladen wurden geleert. Ich stand einfach da. Ein Schrank war bis oben voll mit Dokumenten von der Partei. Aber den haben sie nicht einmal angeschaut! Nachdem sie fertig waren mit dem Chaos, sagte ich: „Ich habe eine Frage: Was genau sucht ihr denn? Was wollt ihr?“ „Sucht ihr nach Waffen? Sehe ich so aus, als ob ich Waffen besäße?“ „Und außerdem: Sagt mir doch einfach, was ihr braucht!“ „Dann kann ich euch bei der Suche helfen!“ „Und überhaupt: Wer räumt dieses Chaos, das ihr angerichtet habt, wieder auf? Hm?“

Aber das zeigt, wie sie mich behandelt haben. Eine Woche lang bezogen sie unten vor meinem Haus Stellung. Sie haben alle kontrolliert, die zu mir wollten. Die Schikane hat zugenommen. Eine Freundin von mir arbeitete bei der deutschen Botschaft. Sie hörte davon und kam zu mir. Sie sagte mir: „Fadwa, das war‘s.“ „Ich glaube, du musst das Land verlassen.“ „Wir wollen nicht, dass dir etwas passiert.“ „Wir wollen, dass du aktiv bleibst und nicht ins Gefängnis kommst.“ Und so hat sie für mich ein Visum für Deutschland beantragt.

Das war im Juli 2015. Den Libanon zu verlassen, war ähnlich schmerzhaft wie der Abschied aus Syrien. Im Libanon hatte ich das Gefühl, dass ich Syrien nahe bin. Ich habe meine Bekannten gesehen, wenn sie in den Libanon kamen. Deutschland war für mich ein Exil. Beirut zu verlassen, war sehr schmerzhaft. Ich dachte, was soll ich denn in Deutschland arbeiten? Was soll ich dort machen? Aber ich schaffe das schon!"

 

Gemeinsam mit anderen Angehörigen von Vermissten hast du die Organisation "Families For Freedom" gegründet. Wie kam es dazu?

"Tatsächlich kam der Vorschlag für unsere Arbeit von einer Freundin meiner Nichte. Sie arbeitete bei der Organisation „Syria Campaign“. Sie sagte: „Wie wäre es, wenn Sie eine Frauengruppe gründen?“ „Es kann ja auch eine kleine Gruppe sein.“ „Sie können die Freilassung der Gefangenen fordern!“ „Die Leute haben Angst, das zu fordern!“ „Sie könnten ihnen Mut machen und Stärke geben.“ Ich war sofort dazu bereit!

Sie brachte mich in Kontakt mit vier Frauen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Alle Angehörigen von Gefangenen oder Vermissten sind willkommen. Es gibt niemanden in der Politik, der mit den Fällen der Gefangenen zu tun hat, den wir nicht besucht haben. Es gibt keine Veranstaltung, bei der wir nicht die Fotos unserer Kinder hochgehalten haben.

Wir haben einen Friedensbus organisiert. So einen roten Doppeldeckerbus wie in London. Auf den Bus haben wir die Bilder der Gefangenen aufgeklebt. Damit sind wir durch Frankreich, Deutschland und bis nach Brüssel gefahren. Gerade überlegen wir, damit nach Den Haag zu fahren. Wir fahren zu diesen Orten, organisieren Reden, und da erzählen wir Frauen von unseren Forderungen! Wir sehen, dass viele Menschen kommen und an unserer Seite stehen. Also, schau mal... Vielleicht ist mein Glaube...

Also, erst einmal: Ich bin nicht religiös! Aber ich glaube an das, wofür wir arbeiten und gearbeitet haben. Der Glaube an die Menschlichkeit, der Mensch an sich, der Wert eines Menschenlebens... Das ist es, was mich auf ewig bewegt! Egal, wohin ich gehe und was mit mir passiert: Ich werde für diese Menschen kämpfen. Für mich ist das menschliche Leben ein Wert an sich. Das ist, was mir Kraft gibt! Gibt mir das auch Hoffnung? Ja, denn wenn wir den ganzen Verlauf der Geschichte anschauen: Die Völker können wieder und wieder Rückschläge erleiden, am Ende wird sich ein Weg für sie öffnen. Für die, die gegen Unterdrückung gekämpft haben.

Meine Botschaft an die Jugend ist folgende: Waffen kann man immer tragen. Aber der Frieden braucht Arbeit. Arbeitet für den Frieden! Für eure Kinder, für euch, für die nächsten Generationen. Lasst die nächsten Generationen unsere bittere Geschichte vergessen. Wir haben es erlebt. Ich hoffe, ihr erlebt sie nicht. Eure Generation kann für den Frieden arbeiten.

Ich werde die Worte meines Sohns Maher nie vergessen, als ich damals aus dem Gefängnis kam. Er sagte: „Warum hast du uns verlassen,“ „als wir dich am meisten brauchten?“ Ich sagte: „Ich habe euch verlassen, weil ich nicht möchte,“ „dass ihr die Qualen durchlebt, die wir erfahren haben.“ Leider haben sie es doch erleben müssen. Vielleicht gibt es irgendwann eine Generation, die das vergessen wird und Frieden schaffen wird."

 

Deine Geschichte erzählst du auch in einem Theaterstück des syrischen Regisseurs Ramzy Shqair. Was bedeutet das Theaterspielen für dich?


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Die Sache mit dem Theater war ein merkwürdiger Zufall. Ein Freund von mir, mit dem ich arbeite, kommt aus der Türkei. Er war 21 Jahre lang in Syrien im Gefängnis. Ein Regisseur hörte von seiner Geschichte. Er wollte ein Stück über die Geschichten aus der Gefangenschaft entwickeln. Es sollte auf wahren Geschichten beruhen. Zusammen entwickelten sie ein erstes Theaterstück.

Der Regisseur wollte noch weiter zu dem Thema arbeiten. Mein Freund sagte: „Du musst mit Fadwa sprechen.“ Wenn man die eigene Geschichte erzählt, gräbt man in alten Erinnerungen. Das tut manchmal weh. Aber man heilt dadurch auch. Denn diese Wunden sind noch nicht geheilt. Es fühlt sich an, als würden sie noch pochen. Aber wenn man darüber spricht, gibt es die Chance zu heilen.

Da ist zum Beispiel die Geschichte vom Tod meiner Mutter. Das war kurz nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das habe ich so tief in mir vergraben! Wenn ich davon erzähle, was zwischen mir und meinem Bruder passiert ist, als meine Mutter auf dem Sterbebett lag… Das habe ich wirklich tief in mir vergraben! Ich wollte diese Erinnerung nicht hervorholen. Während ich im Gefängnis war, konnte meine Mutter mich nicht besuchen. Sie konnte das nicht ertragen. Ich strickte eine Wolljacke für sie. Ich sagte meiner Freundin: „Ich glaube, meine Mutter wird es nicht schaffen, das zu tragen.“ „Ich habe das Gefühl, dass alle mich anlügen und dass es ihr in Wirklichkeit sehr schlecht geht.“

Am Entlassungstag musste ich zu meinem Bruder, dem Gefängnisleiter. Ich musste Papiere unterschreiben und so. Er sagte mir: „Bevor du nach Hause gehst,“ „geh deine Mutter im Krankenhaus besuchen!“ Ich kam dort an. Da waren bestimmt 50 Menschen: jede Menge Verwandte und Freunde. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen. Ich dachte, meine Mutter sei schon gestorben. Sie war seit zwölf Tagen im Koma. Bewusstlos. Ich schrie laut auf, stürzte mich auf sie, küsste ihre Hände und weinte. Auf einmal machte sie ihre Augen auf. Sie sagte: „Fadwa, du bist gekommen.“ „Ja, ich bin gekommen.“ Ich blieb die ganze Nacht bei ihr. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht einmal meine Kinder gesehen.

Am nächsten Morgen ist sie gestorben. Ich hatte zwölf Stunden mit ihr verbracht.

Diese Geschichte hatte ich tief in mir versteckt, aber ich habe es geschafft sie auf der Bühne zu erzählen. Jetzt muss ich dir aber mal was Lustiges erzählen. Jetzt hören wir auf zu weinen. Du wirst sonst noch mit mir schimpfen, so viel, wie du geweint hast!

Ich erzähle dir von meinem Freund aus der Türkei. Das war unglaublich! Also, ich hörte von diesem jungen Mann namens Riyadh. Er war 21 Jahre lang im Gefängnis. Einmal waren wir in Holland. Dort arbeiteten wir mit Organisationen zusammen, die sich mit den Fällen der Gefangenen befassen. Sie haben ihn mir vorgestellt: „Das ist Riyadh.“ Ich sagte: „Gut, dass du heile rausgekommen bist!“ Wir waren etwa zwanzig Leute. Ich saß ihm gegenüber und fragte: „Sag mal, Riyadh, wer hat dich im Gefängnis gefoltert?“ Ich werde jetzt ein Schimpfwort benutzen, auch wenn ich das sonst nicht mache. Er sagte: „Es gab da diesen Offizier – ein richtiger Hurensohn!“ Der Arme! Ich fragte: „Wie hieß er denn, dieser Offizier?“ Er sagte: „Der Name war Adnan Mahmoud.“ Und ich... Alle waren völlig sprachlos! Aber ich habe lauthals gelacht! Er fragte: „Was ist los??“ Die anderen sagten: „Das ist Fadwas Bruder!“"

 

 



Quelle: Video-Transkript von https://youtu.be/A2NuTp3JUwM?feature=shared

 


Dieser Text ist Teil der multimedialen Ausstellung "Gesichter des Friedens" von Pro Peace
Die Plakate sind zu sehen vom 2. - 30. Juni 2025 im 2. Obergeschoss der Stadtbibliothek Braunschweig (Lesesaal).