Vortrag von Orhan Sat am 17.06.2010
Am Abend des 17. Juni begrüßten 40 TeilnehmerInnen an einer Veranstaltung des Friedenszentrums den Braunschweiger Politologen Orhan Sat, der ein Bild der heutigen Türkei gab. Es galt auch herauszufinden, wo sie jetzt als EU-Beitrittskandidatin steht.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Geschichte des Osmanischen Reichs mit dem Vertrag von Sèvres besiegelt. Durch ihn reduzierte sich das Staatsgebiet, das sich vorher über Arabien, Nordafrika und den Balkan erstreckte, nahezu auf die heutige Größe der Türkei. General Mustafa Kemal Atatürk war wie viele andre mit dem Vertrag nicht einverstanden. Durch die Auflagen entfachte man neue Konflikte mit den Griechen sowie mit den Besatzern Großbritannien und Frankreich. Das Resultat war der Lausanner Vertrag. Die unter Atatürk gegründete Türkei bekam das Recht, die Auflagen des Ersten Weltkriegs zu revidieren.
Der Staat ist seither westlich orientiert. Atatürks erste Amtshandlungen waren die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats sowie der Scharia. Ein großes Problem ist die geschichtlich bedingte ethnische Vielfalt und deren Einigung innerhalb eines demokratischen Regierungssystems. Die Gründungsdoktrin sieht drei Säulen vor, auf denen der Staat beruht. Aus dem Widerstand gegen sie leiten sich drei der heutigen Parteien ab. Ein Beispiel ist die Kurdische Partei (Partei für Frieden und Demokratie), die im Widerstand gegen den verordneten Nationalismus der kemalistischen "Sozialdemokraten" gegründet wurde.
Die erste Säule ist der Nationalismus. Die zweite Säule ist der Laizismus, in dem sich die teilweise islamisch geprägte Bewegung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) wiederfindet. Die gemäßigte AKP, neoliberal ausgerichtet, wendet sich gegen den Staatskapitalismus, die 3. Säule des Kemalismus. Die dritte Säule stellt das staatskapitalistische Wirtschaftssystem dar. Alle zusammen prägen die Innen- und Außenpolitik des Landes. Gerade der Nationalismus ruft aber innere Unruhen hervor.
Die gemäßigte AKP ist derzeit im Land am stärksten vertreten. Sie ist neoliberal ausgerichtet und setzt sich für eine Reform der Justiz ein, um ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit zu schaffen. Der wohl wichtigste innenpolitische Punkt ist, dass sie sich jetzt auch offener für die kurdische Minderheit zeigen.
Außenpolitisch verfolgt die Türkei mit Erfolg eine kooperative „Null-Problem-Politik“. Durch die alte Verbindung innerhalb des Osmanischen Reichs möchte die Türkei als Friedensstifter zur Stabilisierung der Region beitragen. Durch Synergie-Effekte sollen alle umliegenden Staaten vom friedlichen Handel profitieren. Ein weiterer Schritt der Annäherung ist die Abschaffung von Visen.
Dass die Türkei dabei auf dem richtigen Weg ist, kann man an den guten Beziehungen zu Iran, Syrien, Lybien, Libanon, Jordanien, Griechenland, Georgien und Russland sehen. Überdies schaffte sie eine Vermittlung zwischen Israel und Syrien und will jetzt zwischen Iran und dem Rest der Welt vermitteln.
Es handelt sich hierbei um Versuche friedlicher Konfliktlösung, da die Türkei nicht an Kriegen in der Region interessiert sein kann. Dabei entsteht ein doppelter Spagat zwischen den USA, der EU und dem Nahen Osten, aber auch innerhalb des Nahen Ostens. Öffnet sich die Türkei Israel, wird dies von der arabischen Welt missmutig betrachtet.
Ähnlich ist es zwischen der USA und dem Iran. Um dem Iran die Tür für eine friedliche Lösung offen zu halten, verweigert die Türkei einen Waffeneinsatz. Statt mit Sanktionen die Diskrepanz zu erweitern, welche bislang nicht zu einer Befriedung des Nahen Osten beigetragen haben, soll ganz im Russellschen Sinn versucht werden, das offene Gespräch der Konfliktparteien am Runden Tisch herzustellen. Das kommt den friedliebenden Menschen sicherlich sehr entgegen.
Inzwischen ist es eine Medaille mit zwei Seiten, ob die Türkei bereit für den Beitritt in die EU ist oder ob die EU bereit für einen Beitritt der Türkei ist. Sieht man es rein wirtschaftlich, so werden die Stimmen laut, welche kein weiteres Nehmerland in der EU wollen. Im Nah-Ost-Konflikt ist die Türkei dieser aber einen Schritt voraus, weil sie es geschafft hat, eine Vertrauensbasis für Gespräche aufzubauen. Die EU versteht es nicht, den Nahen Osten wirklich zu befrieden. Die Worte „peace building“ und „peace keeping“, die ein Teil des angelegten Militäreinsatzes widerspiegeln sollen, scheinen lediglich leere Hüllen zu sein, hinter deren Fassade sich die Konflikte weiter zuspitzen und Kriege entfachen.
Es würde nicht nur für die EU, sondern weltpolitisch eine große Rolle spielen, die Türkei aufzunehmen und ihr mehr Handhabe im Nahen Osten zu gewähren. Weder die USA noch die EU haben es verstanden sich kooperativ mit dem Nahen Osten zu verständigen.
Die Aufnahme der Türkei in die EU wäre der Gewinn eines wichtigen Verhandlungspartners, der versucht alle Seiten zu integrieren und zur Kommunikation aufruft. Vielleicht der bessere Weg, als ein Land wie den Iran weiter durch Sanktionen zu isolieren. Gelingt es den Nahen Osten zu befrieden, so ist es vorstellbar, dass auch die Wirtschaftskraft der Türkei steigt. Durch einen vergrößerten Absatzmarkt wird nicht nur die eigene Wirtschaft gestärkt, die Abhängigkeit des Handels ist auch ein Garant für den Frieden.
Andre Meisner, Praktikant