Vortrag von Edo Medick am 19.7.2010
Ein junger Mann liegt auf einer Bahre. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht erstarrt, auf seiner Brust liegt eine Fahne. Er wird von einer Menschenmenge umringt, die ihn samt Bahre emporstemmt und über ihre Köpfe hinweg durch ein spärlich begrüntes Bergland trägt. Wer es nicht besser wüsste, könnte meinen, er werde Zeuge einer feierlichen Zeremonie, einer Prozession für einen Helden. Doch ein Blick in die Gesichter der Umstehenden lässt eine andere Geschichte erahnen. Sie erzählen nicht von Verehrung, nicht einmal nur von Trauer. Sie sind angespannt, aufgewühlt, wütend, noch immer in Bewegung so als wollten sie sagen: Seht her, das ist eure Schande! Dieser Kampf ist noch nicht entschieden.
In der Tat tobt der Kampf noch immer, seit nun mehr über 60 Jahren. Der junge Mann ist eines seiner vielen Opfer, erschossen von Soldaten, für die er als vermeintlicher Täter galt. Die ihn umgebende Szenerie ist eine Momentaufnahme, ein kurzer Einblick in einen alltäglichen Konflikt, der in den Namen Israel und Palästina seine erschöpfenden Schlagworte findet. Fotografiert wurde sie von Edo Medicks, einem 29-jährigen Israeli, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Auseinandersetzung zwischen den beiden verfeindeten Völkern zu dokumentieren. Die Öffentlichkeit ist für ihn derzeit vor allem Deutschland. Seit Anfang des Jahres bereist er das Land, um mit interessierten Gruppen über den Israel-Palästina-Konflikt zu diskutieren und seine Sicht der Dinge in Bild und Wort darzulegen. Am Montag den 19.7. war er Gast der Braunschweiger Friedensbewegung.
Edo ist ein ehemaliger Soldat. Drei Jahre leistete er seinen Wehrdienst in der israelischen Armee, war als Kämpfer an der Front zum Westjordanland stationiert, wurde mit Ehren entlassen. Seine persönliche Einstellung lässt nur Vermutungen über seine Erfahrungen zu. Sie ist kritisch, bisweilen radikal im Sinne der weitläufig bekannten Berichterstattung. Er nennt Israel einen ideologischen Staat, regiert von einem Sicherheitssystem, das sich der zionistischen Doktrin verschrieben hat. Der Zionismus ist in seinen Augen eine faschistische und rassistische Bewegung, die den Juden gegenüber den palästinensischen „Tieren“ (Wort eines Ministers!) eine Vormachtstellung im Konfliktgebiet zuspricht. Gemeinhin werden die Bezeichnungen „Jude“ oder „jüdisch“ vom Zionismus im Sinne eines rassistischen Begriffs zur politischen und sozialen Ausgrenzung seiner Gegner missbraucht. So bringe die Erklärung der israelischen Regierungsform zur „jüdischen Demokratie“ schon die Ablehnung alternativer politischer Ausrichtungen zum Ausdruck. Er berichtet von einem Treueid, den jeder Bürger Israels auf sein Land zu leisten habe und von Gesetzen, die in naher Zukunft Andersdenkende als Terroristen klassifizieren sollen, Strafverfolgung inklusive.
Diese sich derzeit weiter verschärfende, innenpolitische Haltung legt den Grundstein für die außenpolitischen Aggressionen insbesondere gegen Palästina. „Delay and Circumvention of Change“ lautet das aktuelle Programm der Regierung Netanjahus. Die Siedlungspolitik spiele dabei eine zentrale taktische Rolle, um durch „Fakten auf dem Boden“ das Palästinenser-Problem weiter aufzuschieben, bis es sich „von selbst“ erledigt hat. Im Grunde halte Edo die jeweilige israelische Regierung jedoch für kaum relevant: solange sie auf der zionistischen Ideologie beharre, bleibe eine friedliche Lösung des Konflikts außer Reichweite. Widerstand sei daher nötig, um ein generelles Umdenken der israelischen Staatsmacht zu bewirken. Die Unterstützung im israelischen Volk müsse gebrochen werden. Das Mindeste sei allerdings eine Kompromissbereitschaft, die sich durch das Misslingen der Siedlungspläne und eine spürbare Ächtung der israelischen Politik einstellen könne.
Als Aktivist richtet Edo sein Hauptaugenmerk auf die Grenzstadt Bil’in. Der palästinensische Protest gestalte sich hier phantasievoll und überwiegend friedlich; Gewalt gehe zumeist von übermütigen Jugendlichen und den israelischen Sicherheitskräften aus. Durch seine Fotos vermittelt er einen Eindruck vom ungleichen Aufeinandertreffen zwischen Militär und Demonstranten: junge Männer in ziviler Kleidung werfen Steine auf gepanzerte Fahrzeuge, Tränengas wird in Form multipler Raketensalven verteilt, mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten sichern den provisorischen Grenzzaun oder gehen offensiv gegen Demonstranten vor. Auch hier lasse sich ein rassistisches Schema erkennen: Weiße hätten gegenüber dunkelhäutigen Menschen tendenziell weniger zu befürchten. So schütze die Unterstützung gewaltfreier Proteste durch Israelis die Palästinenser vor gewalttätigen Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte. Der augenscheinlichen Asymmetrie zum Trotz sind dennoch Erfolge vorzuweisen. So sind die Siedlungspläne und Entwignugnenum Bil’in zum Erliegen gekommen. Der Oberste Gerichtshof Israels hat in einem Urteil vom August 2008 die Unrechtmäßigkeit der geplanten Mauerroute erklärt. Ein Drittel der besetzten Gebiete soll demnach an die Bewohner Bil’ins zurückgegeben werden.
Zur Debatte steht nun auch die Frage nach den hierzulande möglichen Solidaritäts- und Widerstandsoptionen. Edo favorisiert das Projekt BDS (Boycott, Divestment and Sanctions), für das er im Rahmen seiner Vorträge werben will. Eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Antisemitismus und der speziellen deutschen Vergangenheit darf an dieser Stelle natürlich nicht fehlen. Überdeutlich wirft die Assoziation zum nationalsozialistischen Aufruf „Kauft nicht bei Juden!“ ihren Schatten auf die aktuelle Boykottforderung. Der übergreifende Konsens der siebzehn DiskussionsteilnehmerInnen lässt diese allzu bekannte Anklage jedoch nicht gelten. Zwischen Judenhass und politischer Kritik muss eine strenge Grenze gezogen werden; Politik, Ethnie und Religion sind zusammenhängende, aber doch separate Gesichtspunkte. Edo verdeutlicht, dass der Staat durchaus Gegenstand sachlicher Kritik sein dürfe und im Falle Israels gar müsse. Die Kritik richte sich demnach weder gegen das jüdische Volk noch gegen den einzelnen jüdischen Menschen. Ihren Bezugspunkt suche sie stattdessen in der politischen Institution des Staates Israel, dessen völkerrechtswidrige Ausrichtung nicht zu tolerieren sei. Der Vorwurf des Antisemitismus von zionistischer Seite beruhe indes auf einer simplen Logik, die sich als Resultat der eigenen rassistischen Ideologie entwickeln lasse: Die Juden seien eine eigenständige Rasse. Der Staat Israel sei untrennbar mit der jüdischen Rasse verbunden. Folglich bedeute eine Kritik am Staate Israel zugleich einen Angriff auf die jüdische Rasse. In Anbetracht dieser Eigenlogik beansprucht der Protestaufruf zum Boykott israelischer Waren eine korrigierende Kommunikation, die sich dem rassentheoretischen Schubladendenken entgegenstelle und die nationalistische Bindung des jüdischen Volkes an den israelischen Staat hinterfrage. Aufklärung werde somit zum tragenden Stützpfeiler eines international wirksamen Protests. Edo Medicks will sich dieser Aufgabe auch weiterhin annehmen.
Den Abschluss der knapp zweieinhalbstündigen Zusammenkunft bildete daher ein Blick in die nahe Zukunft. Auf Grund des nur privaten Austausches plant das Braunschweiger Friedensbündnis eine weitere Veranstaltung, die sich verstärkt an die interessierte Öffentlichkeit wenden soll. Angedacht ist eine Podiumsdiskussion, die das Thema Israel-Palästina aus verschiedenen, auch konträren Positionen beleuchtet. Bis auf Edo Medicks blieb die Auswahl der Diskutanten allerdings noch offen.
Kristoffer Klement, Praktikant